Rezension: „Zuhause bedeutet für mich eigentlich, ein Zuhause zu haben, ganz einfach.“
10. September 2019 - 12:42 Uhr
Von Lucius Teidelbaum
Die Broschüre mit dem Zitat „Zuhause bedeutet für mich eigentlich, ein Zuhause zu haben, ganz einfach“ als Titel widmet sich den „Erfahrungen von Obdachlosigkeit und Migration“, wie es im Untertitel heißt. Konkret geht es um Beispiele von Menschen in Dresden, die hier temporär auf der Straße leben. Herausgegeben wurde sie 2019 von RomaRespekt und „Weiterdenken“, dem Ableger der Heinrich-Böll-Stiftung (hbs) in Sachsen.
Eines der größten Probleme in der Darstellung von obdach- und wohnungslosen Menschen in den Medien ist, dass häufig über sie und nur selten mit ihnen gesprochen wird. Eine Gruppe ist davon noch einmal besonders betroffen: osteuropäische Rom*nja. Im Nicht-selber-zu-Wort-kommen-lassen liegen u.a. die Ursachen für die wild wuchernden Mythen um diese Gruppe. Nicht nur die einschlägig vorbelastete BILD titelt über die „Bettelmafia“ etc., selbst in Straßenzeitungen war vereinzelt davon zu lesen. Dabei lässt sich oft nichts von den aufgestellten Behauptungen beweisen. Das Bild, was dabei entstanden ist, ist ein Zerrbild. Gleichzeitig verschwindet hinter dem Klischee das Individuum und damit auch die Empathie.
Um dieses Bild zu zerstören, versucht die Broschüre Betroffene selbst zu Wort kommen zu lassen, wie im Vorwort betont wird: „Dieser Band veröffentlicht Erfahrungen von Obdachlosigkeit und Migration. Vier obdachlose Menschen geben Einblicke in ihr Leben auf der Straße, sie sprechen über den Beruf ohne Anerkennung: das Schnorren und Betteln.“ (Seite 5) Über ihre Erfahrungen auf der Straße mit Armut und Ausgrenzung berichten in der Broschüre insgesamt vier Personen, alle sind Rom*nja: Brigitta (21) und Milan (47) aus der Slowakei, Blanka (41) aus Tschechien und Alexandr (36) aus Serbien.
Sie berichten von Armutskindheiten, Leben in ghettoisierten Stadtteilen oder von rassistischer Segregation in der Schule mittels eigenen Roma-Klassen in ihren Herkunftsländern. Aber auch in Dresden erleben sie Diskriminierung, Verdrängung und Vertreibung. Ihre Obdachlosigkeit sorgt nicht nur für gesundheitliche Schäden, sondern bedeutet auch die reale Gefahr eines Erfrierungstodes. Die meisten der Menschen kamen wegen Arbeit nach Deutschland, doch auch hier schlägt ihnen die Diskriminierung entgegen, vor der sie geflohen sind.
So berichtet Milan: „Ich bin dann nach Deutschland gekommen, um Arbeit zu finden. Ich bekomme überhaupt keine Arbeit. Wenn ich anrufe, gibt es kein Problem, dann werde ich zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Sobald ich vor der Tür stehe und sie sehen, dass ich ein Rom bin, ist die Stelle schon vergeben. Ich war auch in Italien, aber weder dort noch in Deutschland ist es mir bisher gelungen, Arbeit zu finden.“ (Seite 14) Die Ausgrenzung erstreckt sich bis in die Fürsorge-Einrichtungen: „In Dresden schlafe ich an unterschiedlichen Orten. Beim Museum, manchmal bei der Caritas, wo man einen Euro bezahlt. Aber das ist ganz selten, weil sie keine slowakischen oder tschechischen Leute, also Roma, reinlassen wollen. Es geht direkt um Roma.“ (Seite 14)
Klar wird auch noch einmal: Betteln und Straßenkunst sind harte Arbeit. Allerdings gibt es unterschiedliche Bewertungen je nach Art der Tätigkeit: „Also es ist ein großer Unterschied, ob ich die Figur mache oder bettle, weil man dann sieht, dass ich ein Rom bin. Und wenn ich als Figur stehe, dann wissen sie nicht, dass ich zu den Roma gehöre und gehen mit mir ganz anders um.“ (Seite 17) Natürlich will niemand betteln und auf der Straße leben. Aber sie müssen es, um zu überleben. Blanka (41) aus Tschechien ist beispielsweise mehrfache Mutter und bettelt in Dresden auch um Geld für ihre Miete und Schulmaterialien für ihre Kinder zu bekommen.
Ergänzt werden die schriftlichen Selbstporträts um einen analytischen Beitrag von Justus Schubert, der auf die besonderen Schwierigkeiten für Ausländerinnen und Ausländer in der Bundesrepublik hinweist, die ein Abrutschen auf die Straße erleichtern: „Wenn die Arbeitssuche im Ankunftsland erfolglos verlauft und Grundsicherungsleistungen nicht in Anspruch genommen werden dürfen, ist der Gelderwerb auf der Straße oft die einzige Möglichkeit, das Überleben zu sichern.“ (Seite 35) Im daran anschließenden Beitrag schildert Renata Horvathova (42) aus der Slowakei ihre Arbeit als Mitarbeiterin bei der „Treberhilfe“ in Dresden. Da sie selbst eine Roma ist und sowohl Slowakisch als auch Romanes kann, erleichtert das ihren Zugang bei Klientinnen und Klienten mit entsprechendem Hintergrund.
Es wird in mehreren Berichten von der Wende in Osteuropa und den Folge-Konflikten als Zäsur berichtet. Deswegen wäre es eventuell gut gewesen, auch noch ein erläuterndes Kapitel zur Geschichte der Roma-Minderheiten in Osteuropa vor und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in die Broschüre aufzunehmen. In der Broschüre wird die Vokabel Antiromaismus anstelle der im wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs verbreiteteren Vokabel Antiziganismus verwendet. Das ist einerseits natürlich legitim, da es Kritik an dem Begriff gibt. Andererseits erschwert es die politische Arbeit, weil damit eine weitere Vokabel in den Diskurs eingeführt wird, die den meisten Menschen erst noch erläutert werden muss. Überdies ist sie anfällig für mögliche Missverständnisse, da sie auch auf die italienische Stadt, Benutzerinnen und Benutzern romanischer Sprachen oder die rumänische Bevölkerung bezogen werden könnte.
Doch diese beiden Kritikpunkte sind keine schwerwiegenden. Denn der Broschüre kommt das große Verdienst zu, einen Perspektivwechsel einzuleiten. Die Menschen, die hinter abstrakten Labeln verschwinden, werden durch die einzelnen Biografien nachvollziehbarer. Diese Porträts bestehen neben den einfach gehaltenen, skizzenhaften Porträt-Zeichnungen in der Broschüre aus kurzen eigenen Beschreibungen ihrer Lebensgeschichte.
Veröffentlicht am 10. September 2019 um 12:42 Uhr von Redaktion in Soziales