Muss man aushalten? – von Mauerbau und Grenztoten
18. November 2021 - 10:06 Uhr
Angesichts der seit Wochen anhaltenden humanitären Katastrophe an der 418 Kilometer langen europäischen Außengrenze zwischen Polen und Belarus hat sich der Sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) am Wochenende in der Bild am Sonntag dagegen ausgesprochen, Geflüchtete aus dem EU-Grenzgebiet aufzunehmen. Seiner Ansicht nach sollte die EU die Bilder notleidender Menschen an der Grenze aushalten und stattdessen Polen bei der Sicherung seiner Außengrenze aushelfen. Zuvor hatte sich Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) gemeinsam mit Grünen-Chefin Annalena Baerbock für rasche Hilfsmaßnahmen eingesetzt. Bereits Ende Oktober hatte Sachsens Ministerpräsident seine Unterstützung für die Pläne der polnischen Regierung zum Bau von Zäunen und Mauern signalisiert.
Seit dem Spätsommer hat sich der Weg über Belarus und Polen vor allem für verfolgte und bedrohte Menschen aus dem Nahen Osten und Afghanistan als neue Fluchtroute in die Europäische Union etabliert. Die Reaktion der polnischen Regierung war die Errichtung eines drei Kilometer breiten militärischen Sperrgebiets, zu dem seit dem 2. September lediglich in Ausnahmefällen Journalist:innen, Ärzt:innen und Hilfsorganisationen Zugang erhalten. Ungeachtet einer Aufforderung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) verweigert Polen seitdem ebenso wie Litauen und Lettland medizinische und humanitäre Hilfe.
Nach einer ganzen Reihe ungeklärter Todesfälle und anhaltender illegaler Pushbacks durch die polnische Grenzpolizei verharren inzwischen mehrere tausend Menschen an der polnisch-belarussischen Grenze in provisorisch errichteten Lagern. Während auf der einen Seite Menschen auf eine Möglichkeit warten, ihr Asylrecht wahrzunehmen, reagiert die EU nicht nur rhetorisch mit einer weiteren Militarisierung des Konfliktes und spricht von einer Drohkulisse durch Belarus, welches nach den durch die EU erst im Juni ausgesprochenen Wirtschaftssanktionen vermeintlich das Ziel verfolgt, die europäische Gemeinschaft zu destabilisieren.
Anders als im Fall der Türkei, wo die EU Machthaber Recep Erdoğan seit mehreren Jahren mit Milliardensummen unterstützt und auf völkerrechtswidrige Angriffskriege und Kriegsverbrechen mit Gleichgültigkeit reagiert, machen sich am Fall des Umgangs mit Diktator Alexander Lukaschenko einmal mehr die Doppelstandards in der europäischen Außenpolitik deutlich. Angesichts der derzeitigen Situation forderte Karl Kopp von der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl Polen dazu auf, „den Zugang zu Asyl zu wahren, Flüchtlinge aufzunehmen und ihre Versorgung sicherzustellen“. „Nur wenn internationales Recht und EU-Recht eingehalten werden, können die Spirale der Eskalation gestoppt und Menschenleben geschützt werden,“ so Kopp weiter.
Zur Situation an der Grenze ein Interview mit der polnischen Menschenrechtsanwältin Marta Górczyńska: https://www.proasyl.de/news/an-der-polnischen-grenze-eine-politik-die-menschen-einfach-sterben-laesst/
Weitere Informationen zur Situation an der polnisch-belarussischen Grenze: https://twitter.com/DunyaCollective
Bildquelle: Twitter
Veröffentlicht am 18. November 2021 um 10:06 Uhr von Redaktion in Soziales