Soziales

Lila Pyros ist der Weihrauch der Feminist*innen!

11. Juni 2016 - 01:00 Uhr - 4 Ergänzungen

In Zusammenarbeit mit Pro Choice Sachsen

Am 6. Juni demonstrierten in Annaberg-Buchholz etwa 500 Menschen unter dem Motto: „Emanzipation ist viel geiler – Schweigemarsch stoppen!“ gegen den sogenannte „Schweigemarsch für das Leben“ (Fotos). Dieser wird seit mittlerweile schon sieben Jahren von christlich-fundamentalistischen Abtreibungsgegnerinnen und Abtreibungsgegnern organisiert. Bereits das dritte Jahr in Folge mussten sie sich dabei mit lautstarken Gegenprotesten auseinandersetzen. Das Bündnis „Pro Choice Sachsen“ konnte dazu an diesem sonnigen Montagnachmittag 500 Menschen aus Chemnitz, Dresden, Leipzig, Plauen, Erfurt, Jena und Berlin in den erzgebirgischen „Bible Belt“ mobilisieren. Die Pressesprecherin des Bündnisses, Lisa Mueller, erläuterte die Motivation hinter dem Protest: „Wir wollen auch weiterhin Entscheidungen über unser Leben ohne Einmischungen von FundamentalistInnen treffen. Wir fordern die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen, die nach §218 StGB in Deutschland immer noch illegal sind und nur unter bestimmten Umständen straffrei bleiben. Wir demonstrieren hier auch gegen die antifeministische, homosexuellenfeindliche und transfeindliche Politik der selbsterklärten Lebensschutzbewegung. Sie ist ein Teil des gesellschaftlichen Rechtsrucks, mit dem wir uns momentan konfrontiert sehen.“ Ein Störversuch unter Einsatz eines Transparentes wurde anders als noch im vergangenen Jahr von Polizeikräften vereitelt.

Die gesamte Aufmarschstrecke der Fundamentalistinnen und Fundamentalisten war durch eine starke Polizeipräsenz gekennzeichnet. Wenig verwunderlich, hatte der Freistaat zur Trennung von Schweigemarsch und Gegendemonstration doch insgesamt 300 Beamtinnen und Beamte aufgeboten. Dennoch war an zwei Stellen, an denen sich beide Veranstaltungen begegneten, der laute und kreative Protest unter Einsatz von Musik, Sprechchören, Luftballons, Schildern, Konfetti, Dildos und Pyros weder zu überhören, noch zu übersehen. Mit Sprechchören wie „Kein Gott kein Staat kein Patriarchat“, „Fundamentalismus raus aus den Köpfen“ und „My body my choice – raise your voice!“ wurde den reaktionären Forderungen widersprochen, welche ihrerseits auf Schildern eine „Willkommenskultur für ungeborene Kinder“ und „Babies welcome“ forderten. Wie bereits im vergangenen Jahr angekündigt, hatten sich die durch die größer werdenden Proteste in Bedrängnis geratenen erzgebirglerischen Abtreibungsgegnerinnen und Abtreibungsgegner für den Tag Unterstützung aus den Bundesstrukturen der Lebensrechtbewegung eingeladen. Auf der Kundgebung an der St. Annenkirche sprach mit Martin Lohmann jemand der weniger in seiner Funktion als Vorsitzender des Bundesverbandes Lebensrecht, sondern vielmehr als entschiedener Gegner jeglicher Schwangerschaftsabbrüche – auch nach Vergewaltigungen – bekannt geworden ist.

Lohmann hängt wie viele andere der so genannten Lebensschützerinnen und Lebensschützer dem Glauben an, dass sowohl die verschmolzene Ei- und Samenzelle, als auch Embryonen „im Angesicht Gottes“ „bereits beseelt“ seien. Damit würden ihnen die gleichen Rechte wie einem geborenen Menschen bzw. sogar der Schwangeren übergeordnete Rechte zustehen. Entsprechend dieser Auffassung bezeichnete Lohmann in seiner Rede Schwangerschaftsabbrüche immer wieder als Tötung ungeborenen Lebens. Zugleich bedauerte er, dass sich Menschen zwar über das tägliche Schreddern von männliche Küken empörten, nicht aber über die angeblich tägliche „Vergiftung“ und das „Zerschneiden von kleinen Menschen im Mutterleib“. Die Gegenveranstaltung diffamierte Lohmann als Protest irrgeleiteter junger Menschen und diktatorischer Schreihhälse, denen am besten mit liebevollem Wachrütteln und Gebeten beizukommen sei. Das Ziel seiner Lebensrechtsbewegung sei ein Deutschland und Europa ohne Abtreibung und Euthanasie. In diesem Zusammenhang rief er zur Teilnahme am alljährlichen fundamentalistischen „Marsch für das Leben“ am 17. September in Berlin auf.

Dieser Aufforderung schloss sich auch Thomas Schneider, der Vorsitzende der Christdemokraten für das Leben (CDL) und des neu gegründeten Vereins „Lebensrecht Sachsen“, an, bevor er die Veranstaltung beendete und seine Anhängerschaft zum schnellen Verlassen des Kirchplatzes anhielt, um ein Zusammentreffen mit dem Gegenprotest zu vermeiden. Anders als in den letzten Jahren wurde der Schweigemarsch in diesem Jahr nicht mehr durch die CDL, sondern durch den parteienübergreifenden Verein Lebensrecht Sachsen organisiert. Obwohl auf dem Marsch in diesem Jahr keine Kreistags- oder Landtagsabgeordneten der AfD präsent waren, wurde in Redebeiträgen der Pro Choice-Demonstration zudem eine Öffnung der Lebensschutzbewegung in Richtung der Alternative für Deutschland (AfD) aufgegriffen und dazu auf deren völkische sowie patriarchale Vorstellung von Ehe und Familie verwiesen. Auch erhielt der Schweigemarsch keinen Zulauf durch AfD-nahes Klientel – ganz im Gegenteil: die Zahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer war im Vergleich zu den Vorjahren erneut rückläufig. Im Nachgang äußerte sich allerdings der AfD-Landtagsabgeordnete Carsten Hüttner in sozialen Netzwerken und wies die Kritik an Lebensschützern als „radikale Christen“ als „Hetze“ zurück.

Auf der Gegenseite thematisierte Kirsten Achtelik die Diskrepanz zwischen der Verteidigung des Rechtes auf Abtreibung und der Kritik an behindertenfeindlicher pränataler Diagnostik (PND). Der Arbeitskreis mit_ohne Behinderung (AK MOB) schickte ein Grußwort, in dem er auf die Scheinheiligkeit der geführten Debatte hinwies. Zwar geben die Organisatorinnen und Organisatoren der Veranstaltung vor, sich für die Rechte von Behinderten einzusetzen, obwohl sie mit der CDU von einer Parteie unterstützt werden, die die Forderungen behinderter Menschen seit Jahrzehnten abwehrt und deren Rechte beschneidet. Ein weiteres Grußwort sendeten polnische Aktivistinnen und Aktivisten. In Polen macht derzeit die Bürgerinitiative „Fundacja pro – Prawo do Życia“ (Recht aufs Leben) mit Unterschriftensammlungen für ein Gesetz mobil, welches neben Abtreibungen auch ein Verbot der „Pille danach“ durchsetzen will. Um auf die lebensbedrohlichen Bedingungen illegalisierter Schwangerschaftsabbrüche hinzuweisen, wurden auf der ProChoice Demonstration Symbole wie Stricknadeln und Kleiderbügel mitgeführt. Am Ende der Pro Choice-Demonstration erstattete die Polizei Anzeige gegen den Anmelder, weil er die Auflagen nicht durchgesetzt haben soll, da die Transparente über Kinnhöhe getragen und somit zur Identitätsverschleierung eingesetzt worden sein sollen. Warum sie es für erforderlich hielt, von der Versammlung Filmaufnahmen anzufertigen, sagte die Polizei indes nicht.

Wie weit der Missionierungseifer des Lebensschutzumfelds geht, zeigt ein aktuelles Beispiel aus Dresden. Neben den „Märschen für das Leben“ agieren die Lebenschützerinnen und Lebenschützer auch auf anderen Ebenen. Eine davon ist die Unterwanderung der Schwangerschaftsberatung. So organisiert der auf der Bautzner Straße in der Dresdner Neustadt ansässige Verein KALEB (Kooperative Arbeit Leben Ehrfürchtig Bewahren), welcher als zentrales Anliegen den Schutz des Lebens nennt, seit Jahren Busse zum „Marsch für das Leben“ nach Berlin. Eine neutrale Beratung, die auch die Option eines Schwangerschaftsabbruches einschließt, können Betroffene in der seit 1. Januar 2016 staatlich anerkannten Schwangerschaftsberatungsstelle sicher nicht erwarten. Das Beispiel ist jedoch kein Einzelfall, wie eine Apotheke aus Berlin-Neukölln belegt. Dort war es als Reaktion auf die Weigerung eines Apothekers, die „Pille danach“ zu verkaufen, zu Sachbeschädigungen gekommen. Erst kürzlich war es erneut zu Protesten gekommen, nachdem durch den Inhaber Andreas Kersten in Kondomverpackungen Zettel versteckt worden waren, in denen er für einen „für einen verantwortungsvollen Umgang mit Verhütungsmitteln“ und „für eine grundsätzliche Offenheit und Bereitschaft, Kinder zu bekommen“ warb.

Interview mit Radio Corax: Protest gegen christlichen Fundamentalisten in Annaberg-Buchholz

Weiterer Artikel: Protest gegen Schweigemarsch in Annaberg-Buchholz: „Nicht böse“, sondern „irregeleitet“


Veröffentlicht am 11. Juni 2016 um 01:00 Uhr von Redaktion in Soziales

Ergänzungen

  • Danke für den Artikel, der tatsächlich die Argumente/Aussagen beider Seiten versucht gleichermassen darzustellen.

  • Wer ungeborene Menschen tötet, töten lässt oder dafür eintritt, dass sie getötet werden, stuft Menschen ab in „lebenswerte“ und „lebensunwerte“. Schon heute werden bei uns viele behinderte Kinder abgetrieben, nur wegen ihrer Behinderung. In vielen Staaten werden Mädchen abgetrieben, allein wegen ihres Geschlechts. Das hat nix mit „Emanzipation“ zu tun, sondern ist brutale Selbstermächtigung über das Leben eines anderen.

  • Sabine Folkerts sie müssen zwischen Glauben und Realität unterscheiden. Sie können gerne glauben dass es sich um ungeborene Menschen handelt, es sind aber schlicht Zellhaufen und zwar ohne Seele. Es handelt sich somit auch nicht um Tötung. Auffällig an der lebenschutzbewegung ist auch ihr vehementes Eintreten für behindertes ungeborenes „Leben“, beim Kampf für mehr Rechte für Menschen mit Behinderung sind die FundamentalistInnen hingegen noch nicht in Erscheinung getreten. Komisch oder? Hören Sie also auf im Namen von Menschen mit Behinderung zu sprechen wenn es Ihnen doch eigentlich nur um das Totalverbot von Schwangerschaftsabbrüchen geht. Die Tausenden Frauen die weltweit bei illegalisierten Abbrüchen ums Leben kommen sind ihnen ja ohnehin gleichgültig!

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