Soziales

Erneuter Protest gegen fundamentalistischen Schweigemarsch

17. Juni 2017 - 16:58 Uhr - Eine Ergänzung

In Zusammenarbeit mit Pro Choice Sachsen

Am 12. Juni demonstrierten in Annaberg-Buchholz etwa 350 Menschen unter dem Motto: „Leben schützen! Abtreibung legalisieren! Weg mit § 218!“ gegen den sogenannten „Schweigemarsch für das Leben“ (Fotos 1 | 2). Dieser wird seit mittlerweile acht Jahren von christlich-fundamentalistischen Abtreibungsgegnerinnen und Abtreibungsgegnern des Lebensrecht Sachsen e.V. organisiert. Bereits zum vierten Mal in Folge blieb ihr Aufzug nicht unwidersprochen. Trotz des Termins an einem Montagnachmittag konnte das Bündnis Pro Choice Sachsen auch in diesem Jahr wieder zahlreiche Menschen zu einem lautstarken Gegenprotest in den erzgebirgischen „Bible Belt“ mobilisieren. Für Missstimmung sorgte nach dem Ende der Veranstaltungen einmal mehr der Einsatz der übermotivierten Sächsischen Polizei, die kurzzeitig fünf Personen wegen vermeintlicher Verstöße gegen das Versammlungsgesetz und Widerstand in Gewahrsam nahm.

Die Sprecherin von Pro Choice Sachsen, Lisa Mueller, erläuterte die Beweggründe der angereisten Feministinnen und Feministen: „Durch die Illegalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen nehmen Abtreibungen zahlenmäßig nicht ab, sie finden weiterhin statt – aber eben unter gesundheitsgefährdenden Bedingungen. Die Weltgesundheitsorganisation geht davon aus, dass über 21 Millionen Frauen weltweit jedes Jahr unsichere Schwangerschaftsabbrüche vornehmen müssen. Acht Millionen haben danach gesundheitliche Probleme. 47.000 Frauen sterben jedes Jahr an den Folgen illegalisierter Abtreibungen. Andere sitzen im Gefängnis, weil sie selbst Abtreibungen vorgenommen haben oder weil sie nach einer Fehlgeburt einer Abtreibung verdächtigt wurden. Das zeigt: Wer Leben schützen will, muss das Recht auf legalen Schwangerschaftsabbruch verteidigen.“ Pro Choice Sachsen fordert daher die Abschaffung des §218 StGB in Deutschland, nach dem Abtreibungen immer noch illegal sind und nur unter bestimmten Umständen straffrei bleiben.

Die Demonstration richtete sich aber auch gegen die antifeministische, homosexuellen-und transfeindliche Politik der selbsterklärten Lebensschutzbewegung. Nachdem der Schweigemarsch im vergangenen Jahr erstmals nicht von den „Christdemokraten für das Leben“, sondern vom neu gegründeten Verein Lebensrecht Sachsen getragen wurde, um damit Menschen jenseits des CDU-Spektrums für den Schweigemarsch zu gewinnen, gingen die Organisatoren mit der Einladung der rechten und christlich-fundamentalistischen Hedwig Freifrau von Beverfoerde noch einen Schritt weiter.

Zusammen mit der AfD-Vize-Vorsitzenden Beatrix von Storch organisiert Beverfoerde seit mehr als drei Jahren regelmäßig Kampagnen, Petitionen und Demonstrationen gegen die so genannte Homo- und Genderlobby, u.a. mit Demonstrationen gegen Aufklärung zur sexuellen Vielfalt im Schulunterricht. Das LGBTI-Netzwerk „Enough is Enough! Open your mouth!“ hatte Hedwig von Beverfoerde daher schon 2015 zur „Miss Homophobia“ gekürt. Aktuell organisiert sie „Demos für alle“ gegen den hessischen schwarz-grünen „Aktionsplan für Akzeptanz und Vielfalt“. Auf dem Markplatz von Annaberg-Buchholz agitierte sie in gewohnter Manier gegen frühkindliche Aufklärung und Sexualunterricht.

Immer wieder hetzte sie dabei gegen den Estrela-Bericht, der 2013 dem EU-Parlament vorgelegt wurde und u.a. die Empfehlung an die EU-Mitgliedsstaaten enthielt, in ihren öffentlichen Gesundheitssystemen moderne und hochwertige Zugänge zur Möglichkeit der legalen und sicheren Beendigung von ungewollten Schwangerschaften zu schaffen. An der Zurückweisung des Estrela-Berichtes hatte Hedwig von Beverfoerde, als nationale Koordinatorin der Europäischen Bürgerinitiative EINER VON UNS und als Sprecherin der „Initiative Familienschutz“ einen großen Anteil. Dafür lobte sie sich selbst ausführlich und erhielt anhaltenden Applaus. Beverfoerde zeigte sich von allen Rednerinnen und Rednern am stärksten vom lautstarken feministischen Gegenprotest irritiert, der zeitgleich in Sicht- und Hörweite ebenfalls auf dem Markt stattfand. „Wir hören im Hintergrund die Schreier, die das kostbare Gut Leben bedrohen.“ kommentierte sie genervt.

Die Öffnung des „Schweigemarsch für das Leben“ für die völkische Rechte zeigte weitere Erfolge: Unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern spazierten auch Menschen mit PEGIDA– und Köterrasse-T-Shirt-Aufdrucken. Andere bekannten „Deitsch on frei wolln mer sei,…, weil mer Arzgebirger sei!“ Wie auch schon in den vergangenen Jahren tauchten an der Demontrationsroute von Pro Choice Sachsen immer wieder vereinzelte Nazis auf, um die Anwesenden zu provozieren. Die gezeigten Hitlergrüße wurden aber von der sächsischen Polizei wie üblich nicht gesehen und entsprechend nicht strafrechtlich verfolgt.

Ein wichtiges auf der Gegendemonstration mitgeführtes Utensil war in diesem Jahr der Metallkleiderbügel. Auch auf Transparenten und Schildern wurde er häufiger als in den Vorjahren verwendet. Damit wurde zum einen auf ein in der Vergangenheit verwendetes Hilfsmittel aufmerksam gemacht, auf das ungewollt Schwangere zurück greifen mussten, wenn Abtreibungen verboten waren. Zum anderen solidarisierte sich Pro Choice Sachsen mit der Verwendung dieses starken Symbols mit den Kämpfen in Polen. Zwar war dort im vergangenen Jahr durch Massenproteste eine Gesetzesverschärfung verhindert wurden. Allerdings beschloss das polnische Parlament im Mai 2017 die Wiedereinführung der erst 2015 abgeschafften Rezeptpflicht für die „Pille danach“ mit der Begründung, sie sei eine „Schwere Sünde“.

In dieser Situation bleibt für viele polnische Frauen*, die ungewollt schwanger sind, für einen Abbruch nur der Weg nach Deutschland. Dazu können sie auf die Unterstützung der Gruppe Ciocia Basia bauen, die in Berlin Termine für Abtreibungen, Übersetzungen und kostenlose Unterbringungen organisieren. Auch die Situation ungewollt Schwangerer in Irland war Thema auf der Demonstration von Pro Choice Sachsen. Die Initiative Berlin-Ireland Pro Choice informierte über den aktuellen Stand zur Kampagne gegen eines der europaweit repressivsten Gesetze.

Der 8. Verfassungszusatz von 1983 besagt, dass das Leben der schwangeren Frau ebenso viel wert ist, wie das Leben des Fötus. In Irland herrscht derzeit ein völliges Abtreibungsverbot, es sei denn, das Leben der Schwangeren ist in Gefahr. Diese Ausnahmeregelung trat erst Anfang 2014 in Kraft, nachdem im Jahr 2012 die 31-jährige Savita Halappanavar aufgrund einer verwehrten Abtreibung an einer Blutvergiftung verstarb. Erst unter dem Druck von Protesten wurde im Jahr darauf der „Protection of Life during Pregnancy Act“ beschlossen. Allerdings verwehren Ärztinnen und Ärzte oftmals den Eingriff trotz Gefahrenlage, wie ein Beispiel zeigt, dass am 12. Juni bekannt wurde. Inzwischen hat die irische Regierung für kommendes Jahr ein Referendum über den 8. Verfassungszusatz angekündigt.

Gerhard Steier, Vorsitzender des Kaleb Berlin und im „Bundesverband Lebensrecht“ aktiv, ist sicherlich mit dem 8. Verfassungszusatz mehr als einverstanden, denn in seinem Redebeitrag sprach er allen Frauen* im Fall einer Schwangerschaft das Selbstbestimmungsrecht ab. Um noch mehr fundamentalistischen Abtreibungsgegnerinnen und -gegnern eine Teilnahme am jährlichen „Schweigemarsch für das Leben“ zu ermöglichen, verkündete Thomas Schneider, der Vorsitzende des Lebensrecht Sachsen e.V., dass die Veranstaltung in Zukunft immer am Samstag nach dem Internationalen Kindertag stattfinden wird, d.h. im kommenden Jahr am 2. Juni. Ein Termin also, den sich sicher auch das Bündnis Pro Choice Sachsen bereits im Kalender eingetragen haben wird.


Veröffentlicht am 17. Juni 2017 um 16:58 Uhr von Redaktion in Soziales

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