Soziales

„Dieses Projekt ist von der Militarisierung der Grenzen besessen, um den Mythos eines weißen, christlichen und zivilisierten Europas zu schützen.“

15. April 2022 - 20:07 Uhr

Durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine befinden sich einem Bericht der UNO zufolge inzwischen mehr als zwei Millionen Menschen auf der Flucht. Die EU-Mitgliedsstaaten haben sich aufgrund dieser Entwicklung auf die Anwendung der sogenannten „Richtlinie über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes“ geeinigt, um aus der Ukraine geflüchteten Menschen schnellen und unbürokratischen Schutz zu gewährleisten.

In Deutschland erhalten die meisten Geflüchteten aus der Ukraine danach eine Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) sowie Sozialleistungen und medizinische Versorgung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG). Währenddessen stehen unzählige Menschen aus anderen Ländern weiterhin vor unüberwindbaren Grenzsicherungsanlagen, verlieren in unmenschlichen Lagern beispielsweise in Libyen oder Griechenland die Hoffnung auf ein Leben in Freiheit oder sterben bei der Fahrt über das Mittelmeer.

Die zivile Seenotrettung bleibt deshalb stets aktiv. Eine Redakteurin von addn durfte Ende Dezember 2021 die Rise Above des Dresdner Vereins Mission Lifeline e.V. begleiten, ein Verein, der auch Fluchtwege aus Afghanistan oder der Ukraine gen Westen organisiert. Sie hat mit Ana, Aktivistin und Schiffsärztin auf der Rise Above gesprochen.

addn:  Liebe Ana, magst Du zu Beginn zwei, drei Dinge über Dich erzählen?

Ana: Mein Name ist Ana, ich bin in Portugal geboren und arbeite als Ärztin. Jedes Jahr nehme ich mir eine Auszeit von meiner Arbeit in Portugal und agiere im Ausland als Ärztin. Ich unterstütze hauptsächlich migrantische, flüchtende und asylsuchende Personen in Flüchtlingslagern, Auffanglagern oder entlang der Migrationsrouten wie dem zentralen Mittelmeer. Ich gehöre zu einem aktivistischen Kollektiv namens Humans Before Borders, welches sich für den Schutz der Menschenrechte von migrantischen, flüchtenden und asylsuchenden Personen einsetzt. Ich bezeichne mich auch als wütende Feministin.

addn: Was hatte Dich dazu bewogen, Dich an Search-and-Rescue-Missionen zu beteiligen? Gab es einen entscheidenden Moment? 

Ana: Mein erster Search-and-Rescue-Einsatz war im Juli 2019 an Bord der Alan Kurdi von sea-eye. Letztes Jahr war ich im Dezember 2021 im zentralen Mittelmeer an Bord von Rise Above von Mission Lifeline. Schon bei meinen früheren Einsätzen, bei denen ich in Flüchtlingslagern oder Auffanglagern in Griechenland gearbeitet habe, konnte ich die Kämpfe verstehen, mit denen migrantische, flüchtende und asylsuchende Personen konfrontiert sind, wenn sie in Europa ankommen: die Segregation, die Unterdrückung, die Gewalt. Und ich denke, dass die Gewalt, der sie in Europa ausgesetzt sind, in den Lagern, an den Grenzen, in unseren Städten, hauptsächlich durch das europäisch-rassistische Projekt verursacht wird. Dieses Projekt ist von der Militarisierung der Grenzen besessen, um den Mythos eines weißen, christlichen und zivilisierten Europas zu schützen. Deshalb arbeite ich in Flüchtlingslagern und beteilige mich an Such- und Rettungsmissionen als Widerstand und Ungehorsam gegen dieses europäische Projekt. Der Verlust von Menschenleben und das Leid, welches durch diese Bessesenenheit „westlicher“ Vorherrschaft verursacht wird, ist unerträglich und macht mich wütend.

addn: Seit 2014 tobt in Libyen ein Bürger:innenkrieg. Außerdem gibt es viele Flüchtende aus Syrien, dem Irak und Westafrika. Viele von ihnen nutzen Libyen als Transitland nach Europa, COVID-19 hat daran nichts geändert. Dein erster Einsatz auf See war vor der COVID-19-Pandemie, der letzte während der Pandemie. Konntest Du Veränderungen auf See feststellen? Glaubst Du, dass ein sogenanntes europäisches Solidaritäts- und Verantwortungsgefühl aufgrund einer paradoxen Wiederentdeckung der Nationalstaaten, z.B. in Form von nationalen Einreiseverboten, durch die Pandemie nachlässt?

Ana: Die Pandemie hat weder die Migrationsrouten, noch den enormen Bedarf an sicheren Überfahrten verändert. Eher im Gegenteil: sie hat weitere humanitäre Krisen vorgebracht und damit das Bedürfnis nach Schutz und Migration verschärft. Ein noch stärker polarisierter Zugang zur Gesundheitsversorgung, das Flugembargo, was unsere humanitäre Unterstützung erschwerte, die geschlossenen Grenzen, die den Menschen auf der Flucht weitere Hindernisse in den Weg legen. Natürlich wurde die Pandemie in Europa auch als Vorwand genutzt, um die Militarisierung der Grenzen und die  Isolierung von migrantischen, flüchtenden und asylsuchenden Personen zu verschärfen. So durften in Moria2 auf Lesbos die Menschen das Lager monatelang nicht verlassen. Italien nutzte die Pandemie, um den Zugang zu sicheren Häfen z.B. durch unverhältnismäßige Quarantäneauflagen noch schwieriger zu machen.

addn: Du selbst kommst aus Portugal und warst nun in einem Einsatz unter deutscher Flagge tätig. Die Seenotrettung vernetzt und verbindet offenbar europäische Akteur:innen über Grenzen hinweg. Siehst Du darin politisches und aktivistisches Potenzial, das es auszubauen gilt? 

Ana: Ich denke, dass Unterdrückung bekämpft werden kann, in dem sich Menschen in zivilgesellschaftlichen Bewegungen zusammenschließen, organisieren und zur Wehr setzen. Und ich denke, das ist es, was wir im zentralen Mittelmeer tun. Wir kommen aus verschiedenen Orten Europas. Wir nutzen unser Privileg der Freizügigkeit, um uns zu organisieren, Widerstand zu leisten und „ungehorsam“ zu sein. Das ist unsere Stärke und das ist auch der Grund, warum wir kriminalisiert werden. Aber natürlich werden wir nicht nur deswegen kriminalisiert, es ist vor allem ein indirekter Weg, Migration und Asylsuche zu kriminalisieren. Wir kommen, weil wir durch unseren Einsatz im Mittelmeer Menschen retten, die sonst tot wären oder nach Libyen zurückgeschoben würden – mit europäischem Geld, das libysche Milizen unterstützt .

Wir bringen sie nach Europa, was dem europäisch-rassistischen Projekt widerspricht. Dafür werden wir kriminalisiert: weil wir eine Lücke füllen, die von den Staaten hinterlassen wurde. Bis 2013 gab es offizielle Search-and-Rescue-Aktionen der Europäischen Union. Diese Lücke wurde absichtlich nicht geschlossen, die Menschen wurden absichtlich dem Ertrinken überlassen. Das ist menschenverachtend.

addn: Im Dezember 2021 wurde der letzte Prozess gegen Carola Rackete eingestellt. Sie lief 2019 mit der Sea-Watch 3 trotz Verbot in einen Hafen ein. Sowohl sie, als auch andere Kapitän:innen wie Pia Klemp wurden wegen Beihilfe zur illegalen Einwanderung angeklagt. Damals konnte man – zumindest in Deutschland – fast überall Racketes Gesicht sehen, im Internet, im Fernsehen, in den Zeitungen. Während sie zu einer weltberühmten Heldin wurde, verschwanden die Geflüchteten hinter den Behörden. Eine weiße Person rettet eine marginalisierte Person oder eine Gruppe – so oder so ähnlich könnte man das Phänomen des White Saviour aufschlüsseln. White Saviourism und Seenotrettung, passt das für Dich zusammen? Hast Du das Gefühl, dass die Seenotrettung romantisiert oder ikonisiert wird – insbesondere aus einer weißen Perspektive?

Ana: Ich denke, jede humanitäre Arbeit kann White Saviourism sein. Und Seenotrettung ist auch humanitäre Arbeit als Antwort auf eine Anti-Migrations-Haltung bzw. Krise, also denke ich, dass Seenotrettung White Saviourism sein kann. Jedes Mal, wenn Seenotrettung von einer privilegierten Person als eine wilde Erfahrung, ein Abenteuer oder eine selbstzentrierte, gute Aktion gesehen wird, werden diese Privilegien nur bestätigt, ohne sie zu schmälern. Das ist White Saviourism. Ich denke, jedes Mal, wenn Menschen den/die Held:in spielen oder dazu gemacht werden, ist es White Saviourism. Ich denke, jedes Mal, wenn Seenotrettung für kapitalistische Zwecke genutzt wird, ist das eine Instrumentalisierung des Kampfes anderer Menschen und das ist White Saviourism. Ich denke, jedes Mal, wenn Bilder von geretteten Menschen für Spendenaktionen in den sozialen Medien verwendet werden, ist das White Saviourism. Ich denke, jedes Mal, wenn das Machtungleichgewicht genutzt wird, um geretteten Menschen eine Handlung oder ein Verhalten aufzuzwingen, ist es White Saviourism. Ich denke, wenn man von ihnen Dankbarkeit einfordert, ist das White Saviourism. Aber ich glaube wirklich, dass es möglich ist, Seenotrettung ohne Entmenschlichung, Ausbeutung oder Bloßstellung von Menschen zu betreiben, aber wir müssen auch unser Denken und unsere Arbeit dekolonisieren.

addn: In Halle (Deutschland) hat sich ein queerfeministisches Kollektiv zusammengefunden, das derzeit einen LKW ausbaut, um ab März vor den Toren Athens eine Zuflucht für geflüchtete Frauen zu schaffen. Mit der Verteilung von Hygieneartikeln oder sportlichen Aktivitäten soll das tägliche Leben der Frauen unterstützt werden. Ich erinnere mich, dass auch meine erste Frage an Dich lautete, wie es eigentlich ist, eine Ärztin inmitten einer männlichen Gruppe von Geflüchteten zu sein. Wie wichtig ist Dir die Verknüpfung von (queer-)feministischen Forderungen und der Unterstützung von Geflüchteten, ob an Land oder auf See?

Ana: Ich glaube an intersektionalen Aktivismus, andernfalls wird Aktivismus immer eine ausgrenzende Bewegung bzw. Kampf sein. Dafür haben wir schon die Unterdrückenden. Weil Unterdrückung und Diskriminierung auch intersektional sind, ist der Kampf und das Privileg eines europäisch weißen, christlichen, Mittelschichts-Hetero-Cis-Mannes völlig anders, als das einer afrikanischen, schwarzen, muslimischen, prekäre lebenden, bisexuellen Trans-Frau, und wenn diese beiden Menschen eines Tages migrieren oder Asyl suchen müssen, werden die Routen, die Gewalt und die Chancen völlig unterschiedlich sein. 

Die Wurzeln aller Arten von Unterdrückung entspringen der gleichen Macht, die sich gegenseitig beeinflusst: weiße Vorherrschaft, Patriarchat und Kapitalismus. Wir müssen sie alle bekämpfen, wenn wir soziale Gerechtigkeit erreichen wollen. Wenn unsere feministische Bewegung Migrantinnen, schwarze Frauen und Transfrauen nicht unterstützt, kämpfen wir nicht für soziale Gerechtigkeit, sondern nur für das Privileg einiger Frauen, und das Privileg einiger Frauen heißt Unterdrückung und nicht Feminismus. 

addn: Angenommen, ich weiß im Voraus von meiner Anfälligkeit für die Seekrankheit oder habe kein Geld, um zu spenden, wie kann ich dann Seenotrettung unterstützen?  

Ana: Der bessere Weg, Seenotrettung zu unterstützen, ist, die Seenotrettung überflüssig zu machen: organisiere oder schließe dich Kollektiven, Initiativen, Bewegungen an, die sichere Überfahrten fordern, die sich gegen das europäisch-rassistische Projekt stellen, die Frontex abschaffen wollen, die sich gegen die EU-Türkei und die EU-Libyen-Deals stellen. Dekolonisiere Deinen Verstand. Und angesichts unterdrückerischer Politiken: hab keine Angst, Widerstand zu leisten und ungehorsam zu sein. Bleib wütend. Wir stehen zusammen.  

addn: Ana, vielen Dank für das Gespräch!

Titelbild: Hermine Poschmann

Weiteres Bild: Hannah Schweiger


Veröffentlicht am 15. April 2022 um 20:07 Uhr von Redaktion in Soziales

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