Soziales

Appell an die Mitglieder des Sächsischen Landtags

30. November 2016 - 01:12 Uhr

Anlässlich einer öffentlichen Anhörung am vergangenen Freitag hat sich der Sächsische Flüchtlingsrat zusammen mit einer Vielzahl von Vereinen, Initiativen und Einzelpersonen mit einem an die Mitglieder des Sächsischen Landtags und die sächsischen Mitglieder des Deutschen Bundestags gerichteten Appell gegen die Annahme des geplanten Ausreisegewahrsam-vollzugsgesetz ausgesprochen. Mit dem Gesetz könnten geflüchtete Menschen in Zukunft zur Durchsetzung der Ausreise für die Dauer von bis zu 14 Tagen inhaftiert werden. Die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner sehen in dem Gesetz eine Einschränkung von Grundrechten und forderten die Abgeordneten dazu auf, die Menschenrechte zu wahren und das Gesetzesvorhaben abzulehnen.

Ausreisegewahrsam ist immer die ultima ratio

Die Landesregierung sollte gemäß §62 (1) Satz 1 AufenthG andere und mildere Mittel zum Vollzug der Abschiebung in Erwägung zu ziehen. Den Ausreisegewahrsam umzusetzen kann nur die ultima ratio bleiben. Unabhängig davon wie Positionen, wie das Bleiberecht für alle, bewertet werden, bitten wir Sie, das Gesetz auf Grund der folgenden von uns gezogenen Schlüsse abzulehnen.

    Die Abschiebung in den „Herkunftsstaat“ kommt bei vielen Menschen, die sich seit langer Zeit in Deutschland aufhalten, einer Abschiebung ins Nirgendwo gleich, vor allem wenn Kinder betroffen sind die einen Großteil oder ihr ganzes Leben in Sachsen verbracht haben. Immer ist es eine Rückkehr in ein Leben, in dem Verfolgung, Diskriminierung und grassierende Armut drohen. Abschiebungen voraus geht ein rechtsstaatliches Verfahren. Ob aber beispielsweise die Einstufung der Westbalkanstaaten als „Sichere Herkunftsstaaten“ verfassungsgemäß ist, bezweifeln wir, unter anderem in Hinblick auf die strukturelle Ausgrenzung und Diskriminierung der Rom*nja. Wir erinnern, dass es fast 20 Jahre dauerte, bis das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2012 das 1993 eingeführte Asylbewerberleistungsgesetz korrigierte und das Existenzminimum als Menschenrecht definierte. Daher fordern wir die Initiierung eines Normenkontrollverfahrens durch den Bundestag bezüglich der Asylgesetzverschärfungen seit 2015. Die Abgeordneten des Landtags mögen sich in ihren Parteien dafür einsetzen, ein solches Verfahren auf Bundesebene zu ermöglichen. Alternativ kann auch die Landesregierung selber ein solches Normenkontrollverfahren beim Bundesverfassungsgericht beantragen. Dass Landesregierungen Abschiebehaftanstalten zumindest rhetorisch ablehnen oder der sie betreffenden Kritik nicht verschlossen sind, beweisen Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein. Doch auch dort verhindert das bundesdeutsche Aufenthaltsgesetz die komplette Aussetzung der Abschiebehaft oder bedingt deren Verlagerung in andere Bundesländer. Mit Sachsen wären es mindestens drei Bundesländer, die eine bundesweite Debatte anstoßen könnten.
    So lang in dieser Frage keine Sicherheit besteht, sollten politisch Verantwortliche davon absehen, weitere Gesetzesverschärfungen zu beschließen beziehungsweise Gesetze umzusetzen, sofern es ihnen möglich ist. Kaum ist eine Verschärfung beschlossen, wird bereits die nächste angekündigt. Menschlichkeit bleibt auf der Strecke bei einem Tempo, das versucht, mit populistischen Forderungen Schritt zu halten. Die Ingewahrsamnahme von Geflüchteten ist eine Vorstellung, die nur schwer zu ertragen ist. Die Umsetzung des Ausreisegewahrsams kann die Landesregierung vermeiden indem sie das Bundesgesetz schlicht nicht anwendet. Der Freistaat Sachsen könnte somit ein Bekenntnis zur Würde des Menschen ablegen.
    Außerdem fordern wir, dass die sächsischen Ausländerbehörden verpflichtet werden, Geflüchtete zu informieren, wenn die Bedingungen für einen Aufenthalt nach §25a AufenthG bei gut integrierten Jugendlichen und Heranwachsenden oder §25b AufenthG bei nachhaltiger Integration erfüllt sind. Geflüchtete sind sich ihrer Rechtsansprüche oft nicht bewusst, die sich aus dem Aufenthaltsgesetz ergeben. Ein transparenter Rechtsstaat muss dies aber ermöglichen. Diese Informationspflicht soll ebenso für das Ersuchen der Härtefallkommission nach §23a AufenthG gelten.

Besuchsrechte

    Familie und Freund*innen müssen die Gefangengen jederzeit besuchen dürfen. Die bevorstehende Abschiebung wird in den meisten Fällen Abschiednehmen bedeuten.
    Wir befürchten, dass mit der Abschiebehafteinrichtung ein abgeschotteter Raum entsteht, in welchem die Betroffenen keine Möglichkeit haben nach außen hin zu kommunizieren, sich gegen potentielle Missstände zur Wehr zu setzen sowie Rechtsmittel einlegen zu können. Um dies zu verhindern und rechtsstaatliche Prinzipien auch in der Abschiebehaft zu wahren, fordern wir das uneingeschränkte Recht der Gefangenen, mit Anwält*innen in Kontakt zu treten sowie deren unbeschränkten Zugang. Oft müssen Verwaltungsgerichte grobe Fehlentscheidungen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge inhaltlich und formal korrigieren, die Qualität der Bescheide aus dem Amt ist stark gesunken. Nicht nur deswegen benötigen die Inhaftierten anwaltliche Unterstützung.
    In diesem Zusammenhang ist auch das uneingeschränkte Besuchsrecht von einschlägigen Hilfs- und Unterstützungsorganisationen unter Zustimmung der jeweiligen Gefangenen zu gewährleisten. Zwar verweist der Gesetzesentwurf auf §62b AufenthG der wiederum auf §62a Abs. 4 AufenthG verweist, bei welchem der Zutritt von einschlägigen Hilfs- und Unterstützungsorganisationen ermöglicht wird. Wir fordern darüber hinaus eine explizite Erwähnung dieses Zugangsrechts im Sächsischen Ausreisegewahrsamsvollzugsgesetz um dieses in der Praxis tatsächlich zu gewährleisten. Ebenso müssen die Gefangenen überhaupt über ihr Recht der Kontaktaufnahme nach §62a Abs. 2 AufenthG informiert werden. Der sächsische Gesetzgeber muss die Anstaltsleitung entsprechend verpflichten. Seien es Organisationen der Kinder- und Jugendrechtshilfe, der Sächsische Flüchtlingsrat e.V. und weitere asylberatende Organisationen sowie psychosoziale und psychotherapeutische Einrichtungen – ein einmaliger Generalantrag dieser Organisationen muss ausreichen, damit deren Mitarbeiter*innen beziehungsweise Mitglieder jederzeit Zugang in die Hafteinrichtung erhalten. Dies ist umso wichtiger, als dass die Inhaftnahme, wie es auch heute schon bei Abschiebungen praktiziert wird, nicht angekündigt wird. Die Organisationen könnten so möglicherweise erst von der Inhaftnahme ihrer Klient*innen erfahren, wenn die Abschiebung bereits vollzogen ist.

Generalverweis auf das Strafvollzugsgesetz

Die Landesregierung legt dar, dass dieses Gesetz lediglich eine Übergangsregelung ist bis die geplante Abschiebehafteinrichtung in Dresden fertiggestellt sei. Bis dahin solle ein Gesetz verabschiedet werden, welches auf die Abschiebungshaft und den Ausreisegewahrsam eingehe und auf diese Haftarten zugeschnittene Regelungen enthalte. Das hat zur Folge, dass sich ein Generalverweis auf das Strafvollzugsgesetz, welches wohlgemerkt für Straftäter*innen gilt, im Sächsischen Ausreisegewahrsamsvollzugsgesetz wiederfindet. Bereits hieraus ergeben sich aus menschenrechtlicher Sicht eine Vielzahl an Problemen in der Umsetzung des Ausreisegewahrsams, die vermieden werden können. Beispielsweise wurde somit nicht berücksichtigt, dass die Landesregierung eine Sprachmittlung für die Gefangenen jederzeit sicherstellen muss. Weitere Unstimmigkeiten sind:

    §24 Strafvollzugsgesetz setzt die Besuchsdauer auf mindestens eine Stunde im Monat fest. Wie lang der Besuch bei einem Aufenthalt von vier Tagen ist, ist damit nicht geregelt.
    Es wird nicht auf die §§ 71-75 StrafVollzG zur Sozialen Hilfe verwiesen. Wir erinnern daran, dass diese Menschen kurz vor einer Abschiebung in ein Land stehen, aus welchem sie aus guten Gründen geflohen sind. Eine soziale Betreuung in dieser Lage ist unabdinglich, umso mehr, als dass sich Kinder und Familien sowie Kranke in Gewahrsam befinden werden. Die von der Bundesregierung vorgeschlagene Verlängerung des Ausreisegewahrsams von vier auf 14 Tage verstärkt die Notwendigkeit eines sozialberatenden Angebots.
    Durch den Generalverweis auf das Strafvollzugsgesetz wird jegliche psychotherapeutische und psychosoziale Beratung unterschlagen. Wir fordern ein solches Angebot aus denselben Gründen, wie wir eine soziale Beratung als wichtig erachten. Das Strafvollzugsgesetz kennt lediglich sozialtherapeutische Maßnahmen, explizit für Straftäter*innen definiert. Allein dies zeigt, dass die Landesregierung den Ausreisegewahrsam nicht mittels des Strafvollzugsgesetzes gestalten kann und wenn es auch nur für eine Übergangszeit ist. Geflüchtete leiden häufig unter Traumatisierung oder gar Suizidalität, die sich vor der drohenden Abschiebung noch verstärken können, insbesondere in der konkreten Haftsituation. In diesem Sinne ist eine psychosoziale beziehungsweise psychotherapeutische Betreuung unablässig, um Tragödien in der Haftanstalt zu verhindern. Nicht immer führen die Bundesländer angemessene Statistiken, doch mindestens acht Suizidversuche sowie 17 Selbstverletzungen beziehungsweise entsprechende Versuche seit 2012 offenbaren die labile Lage, in der sich Gefangene in deutschen Abschiebehaftanstalten befinden können (vgl. BT-Drs. 18/7196: 108ff). Sollte es darüber hinaus zu Ausweisungen von in der Haft retraumatisierten Personen kommen, wird die Abschiebepraxis der Landesregierung durch weitere Rechtsbrüche gekennzeichnet sein.
    Ebenso unterschlägt der Generalverweis die Rechte schutzbedürftiger Personen, definiert nach Artikel 3 Abs. 9 der EU-Rückführungsrichtlinie. Ihnen ist besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Tatsächlich regelt §62a Abs. 3 Satz 2 AufenthG nicht, worin diese besondere Aufmerksamkeit bestehen soll. Den Satz aber komplett zu ignorieren, verstößt gegen EU- und Bundesgesetz.
    Es drohen Eingriffe in das Brief-, Post– und Fernmeldegeheimnis, die die Befürchtung vor einer „Blackbox“ Ausreisegewahrsam nur potenzieren. Durch den Generalverweis auf das StrafVollzG ist es möglich, den Schriftverkehr sowie Telefongespräche der Inhaftierten zu überwachen. Diese Grundrechtsverletzungen lehnen wir von Grund heraus ab. Viele Geflüchtete werden von Initiativen oder Vereinen zu ihrer asylrechtlichen Lage oder in psychosozialen Fragen beraten. Dieses Vertrauensverhältnis darf nicht durch eine, wenn bisher auch nur theoretisch mögliche, überwachte Kommunikation gefährdet werden. Auch das mögliche Anhalten von Schreiben, wenn sie das Ziel des Vollzugs gefährden (§31 StrafVollzG) ist nicht hinnehmbar. Hilfsersuchen an einschlägige Hilfs- und Unterstützungsorganisationen könnten von Seiten der Anstaltsleitung mittels dieser Rechtsgrundlage zurückgehalten werden.

Einbezug der Verwaltungsgerichte

    Die umfassende Prüfung der Haftgründe durch die Verwaltungsgerichte in jedem Einzelfall reiht sich ein in die Liste der Forderungen nach einem transparenten Ausreisegewahrsam/einer transparenten Abschiebehaft. So lang diese Prüfung nicht abgeschlossen ist, darf die Abschiebung nicht erfolgen. Sollte sich herausstellen, dass die Inhaftnahme rechtswidrig war, sind die Betroffenen zu entschädigen.
    Dies gilt umso mehr bei denjenigen, deren Asylgesuch als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde. Was bei hier anhängigen Verfahren an Verwaltungsgerichten geschieht, muss die Landesregierung beantworten bevor ein solches Gesetz den Landtag passiert.
    Ebenso muss die Verwaltungsgerichtsbarkeit mit einer ständigen Rechtspflege in der Abschiebehaftanstalt präsent sein. Ob die Betroffenen im Einzelfall Kontakt zu einer*m Anwält*in oder einer einschlägigen Hilfs- oder Unterstützungsorganisation aufnehmen, ist nicht gesichert. Die Gefangenen selber müssen in der Lage sein, mit Unterstützung der anwesenden Beamt*innen gegen die Inhaftnahme beziehungsweise die drohende Abschiebung juristisch vorgehen zu können.

Moralische und legale Grenzen werden eingerissen

    Die drohende Inhaftnahme von Kindern und Jugendlichen kritisieren wir vehement und akzeptieren solche Maßnahmen in keiner Weise. Für das Jugendamt muss stets das Kindeswohl ausschlaggebend sein, in diesem Sinne verbietet sich die Inhaftnahme von Kindern. Dies ergibt sich aus Artikel 3 Abs. 1 der UN-Kinderrechtskonvention, der das Kindeswohl und dessen Vorrang bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, definiert. Dies bestätigt zudem der Bericht aus dem Jahr 2012 über den Besuch der „UN-Arbeitsgruppe zu willkürlichen Inhaftierungen“ in Deutschland (Dokumentennummer: A/HRC/19/57/Add.3).
    Ebenso verbietet es sich, überhaupt von der Wahrung des Kindeswohls zu sprechen, wenn die von der Landesregierung beabsichtigte, offen kommunizierte Trennung von Familien zur Durchsetzung des Ausreisegewahrsams umgesetzt wird. Wieder sind verfassungsrechtliche Bedenken anzubringen. Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz des Staates, dies besagt Artikel 6 des Grundgesetzes.
    Auch Artikel 7 des Grundgesetzes zur Schulpflicht ist, kraft seines absoluten Charakters als Menschenrecht, nicht relativierbar – auch nicht für das politische Ziel hoher Abschiebezahlen. Kinder müssen in Deutschland zur Schule gehen. Dass ihnen dies durch einen Gefängnisaufenthalt verwehrt bleiben soll, ist in keiner Weise hinnehmbar.
    Wenn die Landesregierung nun schon plant, Kinder einzusperren, muss das Jugendamt ständig in der Haftanstalt präsent sein und auf die sofortige Meldung von Missständen verpflichtet werden. Ein Übergangsgesetz, was diesen zentralen Kritikpunkt nicht annähernd zufriedenstellend ausräumen kann, hat die Zustimmung eines den Menschenrechten und insbesondere der UN-Kinderrechtskonvention verpflichteten Parlament nicht verdient.

Veröffentlicht am 30. November 2016 um 01:12 Uhr von Redaktion in Soziales

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