Soziales

„Freier Markt und Kommerzialisierung haben im Gesundheitswesen nichts zu suchen“

22. März 2020 - 16:01 Uhr - Eine Ergänzung

Interview über Corona mit dem Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte (VDÄÄ)

In Zeiten von Corona steht das Gesundheitssystem besonders im Fokus. Menschen, die in diesem Sektor arbeiten, stehen in dieser Corona-Pandemie besonders unter Druck und sehen als erste die fatalen Entwicklungen. Eine Gruppe, die schon seit längeren einen kritischen Blick auf den Gesundheitssektor wirft und globale Missstände in diesem Zusammenhang beleuchtet, ist der Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte (vdää). addn.me hatte ihnen im Vorfeld einige Fragen zukommen lassen, um einen Eindruck auf ihre Sicht zur aktuellen Situation zu bekommen.

Schön, dass ihr euch in dieser angespannten Situation die Zeit für ein Interview genommen habt. Ihr sprecht für den Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte. Die wenigsten kennen sicherlich eure Arbeit, deswegen einleitend, wer seid ihr und was macht der vdää?

V: Wir sind eine politische Ärzt:innen-Organisation, beschäftigen uns mit vielen Aspekten der Gesundheitsversorgung und sind u.a. im Bündnis Krankenhaus statt Fabrik organisiert. Dieses Bündnis übt seit längerem Kritik an der aktuellen Form der Finanzierung der Krankenhäuser. Hauptkritikpunkt ist die Kommerzialisierung und die Privatisierung des Gesundheitswesen. In medizinischer Forschung und Praxis bleibt oft vernachlässigt, dass arme Menschen wesentlich schlechtere Gesundheitschancen haben als Reiche. Auch das ist ein Aspekt, mit dem wir uns auf nationaler und internationaler Ebene auseinandersetzen.

Wie schätzt ihr die aktuelle Lage im Gesundheitssektor ein und welche Probleme bringt die Corona-Pandemie mit sich?

V: Das für Deutschland zu erwartende Ausmaß der Pandemie kann anhand der Daten aus China, Italien und Südkorea abgeschätzt werden. Es wird die vorhandenen Kapazitäten an Intensivplätzen – die eine engmaschige (z.T. 1:1-) Betreuung der Patient:innen, Beatmungsoptionen, besondere Betten etc. vorhalten – vermutlich übersteigen. Bereits vor dem Ausbruch der SARS-CoV2-Pandemie herrschte ein Mangel an (Intensiv-)Pflegekräften. Dieser mündete in massivem Zeitmangel für die Versorgung der Patient:innen, daraus folgenden Burn-Outs der verbleibenden Mitarbeiter:innen und einem allgemeinem Attraktivitätsverlust des Pflegeberufes. Die SARS-CoV2-Pandemie stellt zweifelsohne eine Bedrohung dar. Sie ist neu und fordert einschneidende Maßnahmen. Es stimmt aber nachdenklich, dass bekannte Infektionskrankheiten wie Malaria oder Tuberkulose (TBC), die eher den globalen Süden treffen und unbehandelt wie im Fall von TBC täglich mehr als 4.000 Opfer fordern, nicht schon lange viel entschiedener bekämpft wurden. „Die alltägliche Bewältigung globaler Gesundheitsbedrohungen“ sollten nicht vergessen werden.

Welche Dinge bereiten euch aktuell besonders Sorgen? Wie ist eure Einschätzung, wo wird der größte Druck entstehen?

V: Selbst wenn die Zahl der Beatmungsgeräte und Intensivbetten kurzfristig erhöht werden kann, bleibt unklar, wer sich schlussendlich um die schwerkranken Patient:innen kümmert. Diese müssen zumeist 10 bis 14 Tage auf den Intensivstationen liegen. Dramatisch gestalteten sich bisher ebenfalls die Lieferengpässe bei persönlicher Schutzausrüstung (Mund-Nase-Schutz, Sicherheitsmasken). Auch wenn sich hier aktuell eine Entschärfung der Lage abzeichnet. Dennoch verdeutlicht eine Pandemie wie die aktuelle, die Verletzbarkeit des globalen Handels. Lieferketten sind unterbrochen, Medikamente fehlen, es gibt keine ausreichende Zahl an Testmöglichkeiten für COVID-19.

Durch Berichte aus Bergamo (Lombardei / Italien) wissen wir außerdem, dass es ab einem gewissen Zeitpunkt der Pandemie notwendig sein kann, den Gesundheitszustand von Patient:innen gegeneinander abzuwägen. Manchen (schwerst vorerkrankten, sehr alten und schwer betroffenen) Patient:innen müssen dann Weiterbehandlungen versagt werden, um die Behandlungsplätze für jene Patient:innen mit größeren Heilungschancen zu nutzen. Solch eine Entscheidung möchte niemand fällen. Medial kaum präsentist aktuell die Lage in Gefängnissen, Flüchtlingslagern oder anderen zentralen Unterkünften sowie die Situation von wohnungslosen oder illegalisierten Menschen.

Weiterhin kann die häusliche Quarantäne  oder eine Ausgangssperre eine große Belastung für psychisch kranke (z.B. depressive oder suizidale) Personen bedeuten. In China ging die Beschränkung der sozialen Kontakte und des Aufenthaltes im Freien zudem mit einem Anstieg von häuslicher Gewalt einher. Diese Aspekte der Quarantäne müssen unbedingt mehr Berücksichtigung und Prävention finden.

Auf längere Sicht ist in den nächsten Monaten und Jahren eine große Wirtschaftskrise mit gravierenden Folgen sehr wahrscheinlich. Wenn diese, wie die Finanzkrise von 2007/08, abermals auf die lohnabhängige Bevölkerung abgewälzt wird und mit einem weiteren Erstarken rechter Kräfte einhergeht, wird sich der bereits jetzt schon zugespitzte Kampf um eine demokratische Gesellschaft noch weiter verschärfen. Arbeitslosigkeit und die Zunahme gesellschaftlicher Ungleichheit würde auch die gesundheitliche Ungleichheit weiter verstärken, rassistische Ausgrenzung und Gewalt zunehmen, der Druck auf die Beschäftigten weiter steigen und ihren psychischen und physischen Gesundheitszustand angreifen.

Welche Sofortmaßnahmen braucht es aus eurer Sicht jetzt?

V: Die Zusage einer vollumfänglichen Kostenübernahme der Behandlungen von SARS-CoV-2-Patient:innen durch die gesetzlichen Krankenkassen war ein wichtiger Schritt. Die von uns kritisierte Finanzierung der Krankenhäuser-Abrechnung nach dem diagnosis-related groups (DRG)-System sieht eigentlich nicht vor, dass Geld für das Vorhalten von Versorgung bezahlt wird. Geld fließt nur, wenn tatsächlich Patient:innen da sind. Und dann gibt es für jede Diagnose und Behandlung einen bestimmten Preis – unabhängig davon, was die Versorgung von Patient:innen das Krankenhaus tatsächlich kostet. Dieses Prinzip ist nun aufgehoben worden und die Krankenkassen bezahlen, was an Kosten eben anfällt; so sollen den Kliniken zunächst keine Einbußen entstehen. Wir sind damit wieder einen Schritt näher bei der Selbstkostendeckung angekommen. Das sehen wir als Aushöhlung des DRG-Prinzips an – und begrüßen das als gute „Nebenwirkung“ dieser Gesundheitskrise.

Den Kliniken fehlt derzeit das geschulte und gut ausgebildete Personal, ausreichend persönliche Schutzausrüstung, Testsysteme und die finanziellen Mittel, um all dies zu finanzieren. Aus dem Blick gerät zudem häufig, dass auch und vor allem die Mitarbeiter:innen in Ambulanzen, Laboren, Infrastruktur sowie Reinigungskräfte durch die Ökonomisierung der Kliniken reduziert worden sind. Auch hier wäre eine personelle Aufstockung dringend notwendig, um die Krise bewältigen zukönnen.

Gibt es neben diesen Entwicklungen auch positive Beobachtungen bzw. welche Maßnahmen machen euch Mut?

V: Erfreulicherweise wurde der bestehende Vorlauf und die Erfahrungen aus Italien und China genutzt, um die lokale Ausbreitung einzudämmen und die Kliniken entsprechend vorzubereiten – so werden aktuell spezielle Ambulanzen eingerichtet und Notaufnahmen sowie Intensivstationen baulich umgestaltet, sodass die Versorgung von mit SARS-CoV-2 infizierten Patient:innen neben all den anderen (Schwerst-)Kranken möglich ist. Sinnvoll war weiterhin die Aussetzung der so genannten „elektiven Operationen und Eingriffe“. Das sind all jene, die nicht unbedingt jetzt sofort gemacht werden müssen, sondern die auch ohne größeren Schaden für die Patient:innen verschoben werden können, also z.B. der Einbau eines künstlichen Hüftgelenks bei Patient:innen, die auch so noch ganz gut klar kommen, aber perspektivisch eine solche OP brauchen etc. Das schafft Platz auf den Intensivstationen und bringt eine kurze Verschnaufpause für das medizinische Personal.

Welche Forderungen habt ihr an die (Gesundheits-)Politik und insbesondere die Gesundheitsminister der Länder und Jens Spahn (CDU)?

V: Die 2019 erst durch Spahn initiierten Pflegepersonaluntergrenzen (PPUG) in bestimmten Bereichen wurden am 04.03.2020 wegen Corona ausgesetzt. Hierdurch ist eine massive Überlastung der Pflegekräfte während des hohen Patient:innenaufkommens zu erwarten. Wir fordern von Minister Spahn, dass aus der Krise gelernt wird. Freier Markt und Kommerzialisierung haben im Gesundheitswesen nichts zu suchen. Die Krise hat gezeigt, dass Selbstkostendeckung das einzig sinnvolle Finanzierungsprinzip ist. Dies würde bedeuten, dass im Krankenhaus als einem Bereich der Daseinsvorsorge die anfallenden Kosten bezahlt werden müssen; dass es weder Gewinne, noch Verluste geben kann und dass niemand hier Profite machen kann. Das hieße außerdem, dass Krankenhäuser nicht in Konkurrenz zueinander stehen, sondern in einem sinnvollen Kooperationsverhältnis. Gerade letzteres wäre dringend nötig in der aktuellen Situation. Es kann nur sinnvoll und bedarfsgerecht geplant werden, wenn das Gesundheitswesen nicht profit- und -konkurrenzgetrieben ist, sondern als ein Bereich der Daseinsvorsorge organisiert wird. In der Corona-Krise werden lange bestehende Missstände im Gesundheitssystem deutlich (eingeschränkter Medikamentenzugang, Profitmaximierung). Entscheidend ist, dass nach der Krise neue Strategien entwickelt werden diese Missstände zu beheben und nicht die Denkmuster weiter verfolgt werden, die sie begünstigt haben.

Ihr seid alle Menschen, die in Krankenhäusern oder Pflegeberufen arbeiten. Homeoffice ist für euch unmöglich, Kindergärten und Schulen haben zu? Wie stellt sich für euch persönlich gerade die Lage dar und wie blickt ihr in die nächsten Wochen?

V: Natürlich weiß niemand genau, was wann auf uns zukommt und wir hoffen, dass uns Situationen wie in der Lombardei erspart bleiben. Es gibt jedoch ermutigende Ansätze, wie etwa die Versorgung der Kinder innerhalb der Betriebe zu organisieren und die Solidarität unter den Beschäftigten nimmt fühlbar zu. So halten sich beispielsweise Erzieher:innen und Psycholog:innen bereit, umsich um die Belange der direkt mit der medizinischen Versorgung Beschäftigten zu kümmern. Unter diesem Gesichtspunkt trifft wohl „every crisis is a change“ zu und es bleibt zu hoffen, dass sich diese gegenseitige Wertschätzung und der Zusammenhalt auch nach der COVID-19-Krise verstetigen.

Wie kann euch eine solidarische Leser:innenschaft unterstützen und was wünscht ihr euch von ihr?

V: Wie gesagt, die Kliniken bereiten sich so gut vor, wie sie es eben können. Helfen kann nur, den Anstieg der Infektionsrate zu verlangsamen, um die Zahl der zeitgleich schwerkranken Patient:innen niedrig zu halten. SARS-CoV-2 wird über Tröpfchen übertragen. Hieraus ergibt sich der Appell, einfachste hygienische Maßnahmen einzuhalten: Wascht euch nach jedemAusgang/Schuhe binden/niesen/husten/… die Hände. Greift euch nicht in’s Gesicht. Wahrt die Husten-Etikette (niest/hustet in die Armbeuge). Haltet >1,5m Abstand zu möglichst allen Personen in der Öffentlichkeit. Beschränkt die physischen Sozialkontakte auf ein Minimum, aber helft eurenbetagten/kranken/alleinerziehenden Nachbar:innen mit Einkäufen, Kinderbetreuung, Tierversorgung oder mit einfachen Telefonaten, um den zwischenmenschlichen Austausch trotz der Einschränkungen zu ermöglichen!

Den Tafeln mangelt es bereits jetzt an Lebensmitteln, um Menschen mit dem Nötigsten zuversorgen, auch werden die Blutkonserven knapp. Hier kann jede:r Einzelne aktiv werden! Also geht zum Blutspenden, statt zum Hamsterkauf!

Nach dem Abklingen der Infektionsraten sollten alle Kräfte gebündelt werden, um eine Abschaffung der DRG zu erreichen und der durch sie verursachten Fehlanreize sowie Zustände in den Kliniken.

Vielen Dank für eure Antworten und die wichtige Perspektive. Viel Kraft euch für die kommende Zeit und eure Kämpfe.


Veröffentlicht am 22. März 2020 um 16:01 Uhr von Redaktion in Soziales

Ergänzungen

  • Tolles Interview, super spannend mal eine professionelle, linke perspektive zum thema zu lesen!

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