16. , 17. und 18. Verhandlungstag im Prozess gegen die „Gruppe Freital“
1. Juni 2017 - 22:54 Uhr
Dokumentation des Prozessberichtes der Opferberatung des RAA Sachsen
Zu Beginn des Prozesstages übergeben die Nebenklage-Vertreter_innen dem Gericht einen Katalog mit Fragen zur Einlassung Patrick F.s. Danach wird die Vernehmung von KHK R. fortgeführt. Seine Einvernahme am 28. März 2017 musste wegen der Erkrankung des Angeklagten Justin S. unterbrochen werden.
Der Zeuge berichtet über die Beschuldigtenvernehmung des Angeklagten Sebastian W. Der Polizist erinnert sich, dass Sebastian W. nicht sehr gesprächig gewesen sei und von sich aus nichts über die gestellten Fragen hinaus beantwortet habe. Die Befragung sei „zäh“ verlaufen, auch das Gericht stellt fest, sie sei „eher kurz, angesichts der Vorwürfe.“ W. habe zum Anschlag Overbeckstraße gesagt, dass er gegen 21:45 Uhr mit seiner Freundin am Protestcamp in Übigau gewesen sei. Da aber sonst niemand da gewesen wäre, seien sie wieder weggefahren. Vom Überfall selbst habe er nichts gewusst, es habe dazu auch keine Kommunikation im Chat gegeben.
Hinsichtlich des Anschlags Wilsdruffer Straße habe Sebastian W. eingeräumt, dass er das Fluchtauto gefahren habe. Bei einem Treffen an der ARAL hätten Maria K., Justin S., Timo S., Mike S., Philipp W. und er selbst besprochen, dass man etwas „gegen Ausländer“ unternehmen müsse. Sebastian W. habe behauptet, sie hätten nur die Fenster der Wohnung zerstören wollen. Entdeckt hätten sie die Wohnung zwei Wochen vorher. An der Tankstelle hätten sie auch festgelegt, wer „Böller“, C6 oder C12, und Klebeband mitbringt und dass man sich in der Nähe einer Schule wieder treffe.
Zwischenzeitlich sei Sebastian W. nochmal nach Hause gefahren, auf dem Weg zum verabredeten Treffpunkt sei er an der Wohnung in der Wilsdruffer Straße vorbeigefahren und habe drinnen sowohl Licht, als auch Leute gesehen. Nach dem Treffen seien Mirjam K. und Maria K. zu McDonalds gefahren, während Patrick F., Justin S. und Philipp W. über das Feld von hinten an das Zielgebäube herangeschlichen seien und Sebastian W. im Wagen gewartet habe. Er habe drei Explosionen in kurzem Abstand gehört, schon davor habe er die drei rennen gesehen. Sie seien zu ihm ins Auto gestiegen, Patrick F. habe er zu seinem eigenen PKW gefahren, die anderen beiden jeweils zu ihren Wohnungen.
Timo S. sei in der Vernehmung als „treibender Keil“ bezeichnet worden, erinnert sich der Zeuge. Sebastian W. habe auch gesagt, dass Timo S. „bei dem Thema“ schon eskaliere. Näheres habe die Befragung aber nicht ergeben, berichtet der Zeuge. Eine Aussage von Sebastian W., dass Timo S. die Aktion an der Wilsdruffer Straße als »sinnlos« bezeichnet habe, habe es nicht gegeben. Niemand habe der geplanten Aktion widersprochen. Der Beamte berichtet, er habe von Sebastian W. nicht den Eindruck gehabt, dass er „der große Rechtsextremist“ sei, er habe aber auch vermutet, dass W. noch mehr wisse, als er in der Vernehmung gesagt habe. Damit wird der Zeuge nach einer guten Stunde entlassen.
Nach der Mittagspause wird ein weiterer Beamter des OAZ vernommen. Der KHK Ingo S. war an der Durchsuchung der Wohnung des Angeklagten Rico K. beteiligt und hat die daran anschließende Vernehmung protokolliert. Der Beamte wird zur Vernehmung befragt und berichtet, dass diese insgesamt etwa vier bis fünf Stunden gedauert habe. Rico K. habe sich kooperativ verhalten und sich auf die Vernehmung eingelassen, der Beamte habe nicht den Eindruck gehabt, einem vernehmungserfahrenen Menschen gegenüber zu sitzen.
Zur Overbeckstraße habe Rico K. berichtet, dass er auf Facebook bei „Übigau wehrt sich“ einen Aufruf gelesen habe, dem er gefolgt sei. Als er am Abend des Tattages dort eintraf, seien bereits mehrere Personen vor Ort gewesen. Es habe das Gerücht gegeben, Bewohner des Hauses hätten bei einem tätlichen Angriff einen der Turnhallenblockierer verletzt. Die am Abend versammelten Personen, hätten entschieden, dass man sich das nicht bieten lassen könne. Also habe man einen Angriff auf das Objekt vorbereitet. Zunächst seien nur zwölf Personen vor Ort gewesen, deswegen hätten Patrick F. oder Timo S. mit Jeanette P. telefoniert und später seien zwei PKW mit weiteren Personen aus Dresden dazu gestoßen, darunter Jeanette P. und Benjamin Z.
Den Treffpunkt für die Vorbereitung habe man in die Flutrinne unter die Brücke verlegt. Manche seien zu Fuß dorthin, andere mit dem Auto. Auf dem Weg sollten Steine eingesammelt werden, Rico K. und Torsten L. hätten das aber nicht gemacht. Patrick F. und Mike S. hätten Buttersäure mit Pyrotechnik verbunden, das habe bestimmt 20 Minuten gedauert. Maria K. habe einen Baseballschläger dabei gehabt, später habe den einer der „Jüngeren“ in der Hand gehabt, so Rico K. in seiner Vernehmung. Außerdem habe Patrick F., den Rico K. als „Initiator“ der Aktion benannt habe, zwei Gruppen eingeteilt. Die „Dresdner“ sollten von vorne angreifen, während die „Freitaler“ von hinten an das Haus herangehen. Maria K. und Jeanette P. sollten an den Autos warten, mit denen sie nach der Tat zusammen wegfahren wollten.
Sie hätten die Telefone ausgeschaltet und sich vermummt. Rico K. sei vorne dabei gewesen, er habe sich zwei La Bombas genommen und sei dann mit den anderen „im Gänsemarsch“ an die Vorderseite des Hauses. Rico K. habe angegeben, so der Beamte, dass er aus „Gruppenzwang“ mitgemacht habe, denn er wolle „dazu gehören“ und habe „sonst keine Freunde“. Einen der La Bombas habe er gezündet und in Richtung Haus geworfen, den anderen habe er nur weggeworfen. Er habe während des Angriffs im Haus ein Kind gesehen, weswegen er die anderen aufgefordert habe, abzulassen. Sein Einwand sei aber weggewischt worden mit den Worten: „Scheißegal, die werden auch erwachsen.“ Da sich die Bewohner des Hauses gewehrt hätten, habe er sich hinter einem Glascontainer versteckt und sei dann zu Fuß geflüchtet.
Zur Wilsdruffer Straße habe Rico K. erzählt, dass er vorher mit in Tschechien gewesen sei. Für die Tatplanung sei Patrick F. verantwortlich gewesen. Außerdem hätten sich Freiwillige gemeldet, die dabei mitmachen wollten. In Patrick F.s Wohnung sei er auch gewesen und F. habe dort unter Verwendung von Handschuhen Pyrotechnik präpariert. Rico K. habe gar nicht zum Angriffsobjekt gewollt, so die Erinnerung des Beamten an die Vernehmung. Timo S., der ihn gefahren habe, habe den Anschlag aber verfolgen wollen und sich in der Nähe mit seinem PKW auf einen Hügel gestellt. K. habe drei Knallgeräusche vernommen und später dann Rauch gesehen. Danach seien sie erst am Haus vorbeigefahren und dann weiter zu McDonalds. Sie hätten dort die anderen getroffen und Rico K. sei in ein anderes Auto umgestiegen.
Die Freitaler habe Rico K. auf verschiedenen Demonstrationen kennengelernt und er sei danach öfter an der ARAL in Freital gewesen. Maria K. habe er „nie gemocht“, die habe sich immer „aufgespielt“. Patrick F. sei „ausschlaggebend“ für die Gruppierung gewesen.
Gefragt wurde auch nach der Freien Kameradschaft Dresden (FKD), berichtet der Beamte. Rico K. habe sie als „Saufgemeinschaft“ beschrieben und gesagt, er wisse nicht, welches Ziel die FKD verfolge. Die Führung habe dort Benjamin Z. inne gehabt. Rico K. habe mitgemacht, weil er „in die Szene rein wollte“.
Abschließend wird noch die Wohnungsdurchsuchung thematisiert. Neben einem Laptop mit dem Aufkleber „Ein Herz für Deutschland“, seien legale Silvesterböller beschlagnahmt worden. Außerdem hätten die Beamten mehrere Aufkleber der FKD gefunden.
Die Befragung endet nach etwa zwei Stunden und mit ihr der heutige Prozesstag.
Der erste Zeuge am 17. Verhandlungstag ist der Polizeibeamte D. vom Bundeskriminalamt (BKA). Er war am 19. April 2016 an der Wohnungsdurchsuchung des Angeklagten Rico K. beteiligt und hat ihn anschließend in Anwesenheit seines Verteidigers vernommen.
Nach der Belehrung habe D. dem damals Beschuldigten die Tatvorwürfe, unter anderem das Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion und 4-facher versuchter Mord, eröffnet. Rico K. habe sich dann zum Anschlag Wilsdruffer Straße geäußert. Zunächst berichtete er von der Fahrt nach Tschechien, bei der Patrick F. Pyrotechnik, Spirituosen und Zigaretten im Wert von mehreren hundert Euro erworben habe. Sie seien mit zwei PKW unterwegs gewesen, ein Auto sei auf dem Rückweg vorangefahren, um etwaige Polizeikontrollen frühzeitig zu entdecken. Die habe es aber nicht gegeben, was telefonisch kommuniziert worden sei.
Anschließend habe man sich an der ARAL in Freital getroffen, gibt der Beamte die Aussage von Rico K. wieder. Timo S. habe dort geäußert, dass sie mal wieder ausrasten müssten, woraufhin Patrick F. gemeint habe, dass er sich schon eine Wohnung angeschaut habe. Anschließend sei man mit drei PKW zu besagtem Objekt an der Wilsdruffer Straße gefahren, Rico K. habe dabei gesehen, dass im Haus Licht brannte und auch Menschen zugegen waren. Patrick F. habe die Erdgeschosswohnung ausspioniert und anschließend den Plan erläutert: man wolle Sprengkörper anbringen und zwar an die Fenster zur Straße hin. Rico K. habe in der Vernehmung gesagt, dass das „eigentlich von allen“ begeistert aufgenommen worden sei. Ziel der Aktion sollte sein, dass die Leute dort ausziehen, so Rico K. weiter. Man habe aber niemanden verletzen oder töten wollen.
Anschließend sei er mit Patrick F. zu dessen Wohnung gefahren. Der habe die Plastiktüte mit der in Tschechien erworbenen Pyrotechnik mit in die Wohnung genommen und dort angefangen, die Zündschnüre von drei Sprengkörpern zu verlängern. Währenddessen habe F. Handschuhe getragen, die genaue Art der Pyrotechnik habe Rico K. nicht erkannt, die Sprengkörper seien etwa 30 cm lang gewesen, dicker als eine 2-Euro-Münze. Insgesamt habe die Vorbereitung etwa 20 Minuten gedauert, anschließend habe man den Rest der Gruppe an einer Bushaltestelle wiedergetroffen. Dabei habe es eine Kontroverse über die Aufgabenverteilung gegeben. Rico K. habe berichtet, dass Timo S. immer wieder „ich“ gerufen habe, als es um die Übernahme von Aufgaben ging. Eine dritte nicht konkrete benannte Person habe aber eingewandt: „Du nicht, da du immer so ausrastest.“ Die Ausführung hätten demnach Patrick F., Justin S. und Philipp W. übernommen, für Timo S., Maria K. und Rico K. habe es keine Aufgaben gegeben. Alle seien sich jedoch einig gewesen, dass es jetzt los gehe, so die Aussage von Rico K.
Rico K. sei daraufhin zu Timo S. ins Auto gestiegen und sie hätten sich einen Aussichtspunkt in der Nähe der Bombastuswerke gesucht, seien aber nicht fündig geworden. Sie seien dabei auch ausgestiegen und hätten kurz darauf drei Knallgeräusche vernommen und gedacht, das sei es wohl gewesen. Rico K. habe dann erzählt, dass sie zurück zum PKW gegangen und am Tatort vorbeigefahren wären. Dort habe der Angeklagte Rauch, Scherben und ein zerstörtes Fenster wahrgenommen. Sie seien weiter zu McDonalds und hätten dort zufällig das Auto von Sebastian W. und Maria K. gesehen. Rico K. sei letztlich in das Auto von Sebastian W. umgestiegen und von ihm nach Hause gefahren worden.
Fragen zu weiteren Taten, zum Chat, zur Struktur der Gruppe und zu seiner politischen Einstellung habe Rico K. auf Anraten seines Anwalts nicht beantworten wollen.
Nach der knapp einstündigen Vernehmung des BKA-Beamten nimmt der nächste Zeuge Platz. Ferenc A. war bereits zu einem früheren Termin geladen, ist damals aber nicht erschienen. Nach seiner Belehrung beruft er sich auf sein Aussageverweigerungsrecht und wird sogleich wieder entlassen.
Der dritte und letzte Zeuge KOK M. vom LKA Sachsen hatte den eben entlassenen Zeugen polizeilich vernommen. Dabei habe Ferenc A. freiwillig Angaben gemacht, zunächst jedoch nur zu einer drei Meter großen Schmiererei mit roter Farbe „Kein Heim – Not Welcome“ auf der Dresdner Straße in Höhe der Hausnummer 288. Diese Tat habe Ferenc A. eingeräumt. Außerdem seien Timo S. als Fahrer und zwei weitere Personen dabei gewesen.
KOK M. habe dem Beschuldigten daraufhin eine Aussage von Sebastian S. in Bezug auf den Anschlag PKW Richter vorgehalten. Nach etwa 15 Minuten Bedenkzeit und einer erneuten Belehrung habe sich Ferenc A. auch hierzu eingelassen. Er berichtete von einer Busfahrt bei Timo S., bei der außerdem Patrick F., ein „Basti“, Mike und zwei weitere Personen dabei gewesen sein sollen. An den Endhaltestellen habe Timo S. pausieren müssen, die Gelegenheit hätten sie genutzt, um alle gemeinsam über den PKW des Stadtrats Richter zu sprechen. Sie hätten entschieden, den PKW anzugreifen. Patrick F. und „Basti“ hätten dann in den nächsten Tagen die Tat geplant. Von Patrick F. sei er schließlich informiert worden, dass man sich an der ARAL treffe und dass er schwarze Kleidung anziehen solle.
An der ARAL seien sie noch einmal durchgegangen, wer was mache und dann seien sie zu dritt zur Jägerstraße gefahren. Sie hätten dort das Auto abgestellt, sich vermummt und seien dann zum Parkplatz des Autos von Richter gegangen. „Basti“ habe dort mehrfach erfolglos mit einer Eisenstange auf die Autoscheibe eingeschlagen, Patrick F. habe gesagt: „nochmal“, dann sei die Scheibe kaputt gegangen. Ferenc A. habe einen Cobra-6-Sprengkörper, den ihm Patrick F. übergeben habe, gezündet und in das Autoinnere geworfen. Patrick F. habe eine PET-Flasche, die zur Hälfte mit einem schwarzen Pulver gefüllt gewesen sein soll, angezündet und ebenfalls hineingeworfen. Dann seien sie weggerannt und nachdem sie um die Hausecke gebogen waren, habe Ferenc A. einen „ordentlichen Hieb“ vernommen und blaues Licht und einen Blitz gesehen. Sie seien zum Fluchtfahrzeug gelaufen und zum REAL-Parkplatz gefahren. Patrick F. und „Basti“ hätten dort mit dem Handy kommuniziert, einer von beiden habe berichtet, dass nun die Feuerwehr unterwegs sei. Nach einer Zigarette seien sie nach Hause gefahren, so die Angabe des Beschuldigten in der Vernehmung.
Zum Tatmotiv habe er geäußert, dass er Herr Richter nicht „mochte“, weil dieser links gewesen sei und gegen „die Rechten“ argumentiert habe. Außerdem hätten die anderen einen „dritten Mann“ gebraucht. Ansonsten habe er sich vorher aber nicht mit Richter befasst. Angesprochen auf seine Meinung zur „Asylthematik“ habe Ferenc A. gesagt: „Was soll ich dazu sagen, ich will sie nicht hier haben.“
Der Zeuge wird noch nach weiteren Ermittlungshandlungen befragt. Er war unter anderem für eine erste Sichtung der Daten vom Mobiltelefon Philipp W.s zuständig. Die dort gefundenen Fotos nimmt das Gericht in Augenschein. Neben verschiedenen Personen und PKWs sind schematische Zeichnungen zu sehen. Der Beamte vermutete damals, dass es hierbei um den Bau von Sprengvorrichtungen gegangen sei und habe das deswegen als relevant eingestuft. Für die Detailauswertung sei er aber nicht zuständig gewesen. Dokumentiert habe er außerdem verschiedene Chatverläufe in zeitlicher Nähe zum Anschlag Wilsdruffer Straße.
Mit dem Vernehmungsende schließt der Senat die heutige Beweisaufnahme.
Der Beginn der heutigen Hauptverhandlung verzögert sich zunächst um eine Stunde, weil die Angeklagte Maria K. über Unwohlsein klagt. Ein medizinischer Check stellt dann aber doch ihre Verhandlungsfähigkeit fest.
Der erste Zeuge und Nebenkläger war zum Zeitpunkt des Anschlags in der Wohnung auf der Wilsdruffer Straße untergebracht und berichtet vom Geschehen in der Nacht vom 31. Oktober auf den 1. November 2015. A. habe mit einem der drei anwesenden Mitbewohner in der Küche Karten gespielt. Er selbst habe dabei mit dem Rücken zum Fenster am mittig platzierten Küchentisch gesessen.
Sein Mitbewohner habe kurzzeitig den vielleicht vier mal vier Meter großen Raum verlassen, um einen anderen Bewohner zum Spielen dazu zu holen. Als er mit diesem zurück in die Küche gekommen sei, habe er auf einen Gegenstand am Fenster hingewiesen. A. sei daraufhin aufgestanden und sei bis auf etwa anderthalb Meter an das Fenster herangetreten, wo er eine Stange mit brennender Lunte entdeckt habe. Er habe in dem Moment angenommen, dass es sich um Dynamit handele. Der Zeuge habe sofort seine zwei Mitbewohner gewarnt und aus der Küche auf den Flur geschoben, ihm sei es noch gelungen die Tür zu schließen. Das sei alles sehr schnell gegangen. Dann habe es eine Explosion gegeben, bei der alle drei auf den Boden gefallen seien.
Nur wenige Augenblicke später sei der vierte Bewohner aus seinem Zimmer auf den Flur gekommen. Der sei am Auge verletzt gewesen und habe dort geblutet. In der Küche seien überall Glassplitter verteilt gewesen, auch im Flur hätten Splitter gelegen, da die Explosion die Küchentür aufgedrückt habe. Der Zeuge berichtet außerdem, dass in zwei weiteren Zimmern das gleiche passiert sei und die Fenster zerstört wurden. Aus einem der Zimmer sei dunkler Rauch in den Flur geströmt. Auch sein Zimmer sei betroffen gewesen, das sei sehr klein, das Bett habe dort den Großteil der Fläche eingenommen. „Wäre ich dort gewesen, wäre ich tot“, vermutet der Zeuge.
Ein Nachbar sei kurz darauf hinzugekommen und habe gesagt, sie sollten die Wohnung nicht verlassen. Der Zeuge berichtet, dass er in der Situation Angst gehabt habe, jemand könne „weitermachen“. Später sei dann auch die Polizei und ein Hausverantwortlicher eingetroffen. Nervlich sei er „kaputt“ gewesen, so der Zeuge. Er habe nicht mehr stehen können, weswegen er auch in ein Krankenhaus gebracht worden sei. Der Zeuge berichtet auch von einer blutigen Verletzung an seinem rechten Bein, das Krankenhaus habe diese aber nicht bestätigen können, erklärt dazu seine Nebenklagevertreterin. Die Schmerzen hätten wohl eher eine psychosomatische Ursache.
A. berichtet weiter, dass sie nicht zurück in die Wohnung seien, sondern in ein Heim in Schmiedeberg verlegt worden seien. Etwa zwei Tage später hätten ihm erneut die Beine gezittert, so der Zeuge. Auch habe er das Gefühl gehabt, seine Beine nicht bewegen zu können. Deswegen sei er erneut im Krankenhaus untersucht worden. Später habe er immer wieder Schlafprobleme gehabt.
Der Zeuge berichtet zur Stimmung in Freital, dass es ab und zu böse Blicke und auch Beschimpfungen gegeben habe, etwa wenn er im Supermarkt einkaufen war. Nach der Rückkehr in die Wohnung habe es auch einen weiteren Vorfall gegeben, bei dem Leute über das Feld zum Haus gekommen seien und die Bewohner beschimpft und mit Flaschen beworfen hätten. Dem Wunsch in eine andere Unterkunft zu wechseln, hätten sie einem Verantwortlichen mitgeteilt, dem sei aber nicht nachgekommen worden. Mit seiner Anerkennung als Flüchtling habe er sich eine andere Wohnung gesucht, so der Zeuge. Auch heute habe er immer noch Angst, es könne etwas passieren.
Zum Abschluss seiner Vernehmung wendet sich A. direkt an die Angeklagten: „Warum haben sie das gemacht? Was haben wir falsch gemacht?“. Er und seine Mitbewohner seien vor dem Bürgerkrieg in Syrien geflüchtet, sie hätten gehofft, hier in Frieden leben zu können. Eine Reaktion seitens der Angeklagten bleibt aus. Als der Zeuge den Saal verlassen hat, ergreift Justin S. das Wort: Er möchte sich bei allen Geschädigten entschuldigen. Auf Nachfrage des Vorsitzenden Richters signalisiert er, dass er das auch direkt gegenüber den Betroffenen machen würde.
Nachdem der nächste Zeuge im Zeugenstand Platz genommen hat – Al. war ebenfalls vom Anschlag auf die Wilsdruffer Straße betroffen und tritt im Verfahren als Nebenkläger auf – äußert sich nochmals der 20-jährige Justin S.. Er möchte sich entschuldigen, die Taten seien durch nichts zu rechtfertigen, so Justin S., er schäme sich dafür und sei „naiv“ gewesen.
Dann beginnt die nächste Vernehmung. Zeuge Al. berichtet, er habe am Tattag zwischen 24 Uhr und 1 Uhr in der Küche gesessen. Er sei nochmal kurz in sein Zimmer, um ein Kartenspiel zu holen. Als er zurück kam, habe einer der beiden Mitbewohner in der Küche auf einen Gegenstand am Fenster hingewiesen. Sie hätten sich zu dritt in Richtung Flur bewegt und dann habe es eine Explosion gegeben, so Al. weiter. Er habe in dem Augenblick nicht so recht begriffen, was da eigentlich passiert, alles sei sehr schnell gegangen. Er sei von einem Lichtblitz geblendet worden, dann sei er rücklings auf den Boden gefallen und zwischen Flur und Küche gelandet. Zuvor habe ihn, so seine Erinnerung, einer seiner Mitbewohner versucht auf den Flur zu schieben. Der habe auch versucht, die Küchentür zu schließen, er wisse aber nicht, ob das gelungen sei.
Der Zeuge berichtet weiter, dass er drei Explosionen vernommen habe. Dann sei der vierte Mitbewohner aus seinem Zimmer gekommen, der habe eine Verletzung am Auge gehabt. Er selbst habe sich einen Glassplitter am rechten Fuß entfernt, außerdem habe er Probleme mit seinen Ohren gehabt. Später, etwa vier bis sieben Tage danach, habe er auch Probleme mit seiner Sehkraft bemerkt. Deswegen sei er bereits einmal bei einem Augenarzt gewesen, konnte dann aber den Termin nicht wahrnehmen. Zuletzt sei er bei einem Allgemeinmediziner gewesen, der ihn erneut an einen Augenarzt überwiesen habe. Der Zeuge berichtet auch, dass ihm sein Führerschein und Bargeld abhanden gekommen sei. Beides sei bei der Rückkehr in die reparierte Wohnung etwa vier Wochen später nicht mehr auffindbar gewesen.
Das Gericht zeigt mehrmals ein Video, dass der Zeuge direkt in den Minuten nach der Tat aufgenommen hat. Darin sind die zerstörten Fensterscheiben zu sehen. In den betroffenen Räumen liegen Glassplitter auf dem Boden und auf den Betten. Sie sind zum Teil handtellergroß. Zu hören ist außerdem, wie der Nachbar die Wohnung betritt und allen erklärt, nichts anzufassen oder zu bewegen. Das Gericht nimmt anschließend noch Tatortfotos in Augenschein. Die Aufnahmen unterstreichen die Wucht der Detonationen, in die Fensterrahmen sind zum Teil regelrecht Löcher hineingesprengt worden.
Im Anschluss an die Vernehmung beantragt die Verteidigung des Angeklagten Rico K. die Verlesung eines Ausschnitts aus dem Protokoll der polizeilichen Vernehmung des Zeugen. Es gäbe einen Widerspruch zwischen seiner heutigen und der damals protokollierten Aussage. Der Zeuge habe heute einen anderen Aufenthaltsort für einen seiner Mitbewohner genannt, als es damals dokumentiert worden sei. Nach einer Beratung entscheidet der Senat, dass die Verlesung zulässig sei und nimmt die entsprechende Passage in das Gerichtsprotokoll auf. Die Verteidigung der Angeklagten Maria K. will einen weiteren Abschnitt protokollieren lassen. Im Protokoll der Polizeivernehmung heißt es, der Zeuge Al. habe Wasserpfeife geraucht, heute hat er jedoch ausgesagt, dass er selbst nie Wasserpfeife rauche, seine damaligen Mitbewohner aber schon. In einer Stellungnahme bezeichnet die Bundesanwaltschaft den Antrag als „relativ witzlos“, dennoch stimmt das Gericht nach kurzer Beratung zu. Offenkundig versucht die Verteidigung auf dieser Grundlage die Glaubwürdigkeit des Zeugen in Frage zu stellen, obwohl dieser bereits darauf hingewiesen hat, dass es bei der polizeilichen Vernehmung Probleme mit der Übersetzung gegeben habe.
Nachdem der Zeuge entlassen wurde, stellt die Verteidigung des Angeklagten Mike S. einen Beweisantrag. Sie wollen die damaligen Vernehmungsbeamten und Dolmetscher vorladen, um zu zeigen, dass der Zeuge Al. heute „die Unwahrheit“ gesagt habe, insbesondere seine „Verletzungen übertrieben“ habe und daher „unglaubwürdig“ sei.
Der Nebenklagevertreter Hoffmann reagiert darauf mit einer kurzen Erklärung. In Hinblick auf ein Geschehen, das sich innerhalb von 30 Sekunden abgespielt habe, seien Erinnerungsverschiebungen keinesfalls ungewöhnlich, erst recht nicht bei einem traumatisierenden Ereignis. Hinzu käme eine unzureichende Übersetzung bei der Polizei und außerdem die besondere Lebenssituation als Geflüchteter, in der ein Arztbesuch schon aufgrund der Sprachbarriere größere Probleme bereiten könne. Am Tatablauf an sich, lasse das aber keine Zweifel aufkommen. Insofern seien die Bemühungen der Verteidigung vor allem eines: Ein Sturm im Wasserglas.
Bericht aus Sicht der Nebenklage und fortlaufender Pressespiegel
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Veröffentlicht am 1. Juni 2017 um 22:54 Uhr von Redaktion in Nazis