Rezension: „Armut in der reichen Stadt“ Dresden
19. August 2019 - 09:36 Uhr
Von Lucius Teidelbaum
Es ist erst einmal grundsätzlich zu begrüßen, wenn sich die Kulturgeschichte in Dresden im Rahmen einer Publikation dem Thema Armut widmet. Das geschah 2007 in der Reihe der „Dresdner Hefte“ mit dem Heft Nr. 89 zum Thema „Armut in der reichen Stadt“. Die zehn Beiträge und ein Polizeibericht schildern Aspekte städtischer Armut in Dresden seit dem späten Mittelalter.
Etwa Elke Schlendrich in ihrem Beitrag „Bettelwesen in Sachsens Goldenem Jahrhundert“. In diesem beschreibt sie wie ein frühkapitalistischer Arbeitsethos im 16. und 17. Jahrhundert Einzug in der sächsischen Gesellschaft hält, in dessen Folge es zu einer Unterscheidung von Bettlerinnen und Bettlern kam: „Mittels der vorgenommenen Spaltung der Stadtarmut wurde der neue Typ des »starken«, »unwürdigen«, »müßiggehenden«, »faulen« und »bösen« Bettlers geschaffen. Das Gegenstück zu diesem Bettlertyp bildeten die »würdigen«, »arbeitsunfähigen«, »guten« und einheimischen Hausarmen, die schwer an ihrem unverschuldeten Schicksal zu tragen hatten und deshalb von der Gesellschaft zu unterstützen waren.“ (Seite 36) Wem/wer fallen da nicht die Unterscheidungen zwischen ‚guten‘ einheimischen und ‚bösen‘ osteuropäischen Bettlerinnen und Bettlern ein, die heute so weit verbreitet sind? Im Umgang mit dem Bettelwesen kam es jedenfalls seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert zu einer rigidem Anti-Bettel-Politik. Armenaufseher bzw. Bettel- oder Armenvögte wurden eingesetzt und Arme wurden generell als moralische Bedrohung der Gesellschaft gesehen.
Der Beitrag „Wo sind die Verlierer der Geschichte?“ berichtet über die Verlierer in der neu entstandenen Industriegesellschaft in Sachsen. Dabei äußert der Autor auch Kritik an der bisherigen Geschichtsschreibung und -darstellung: „Die Geschichte der reichen Sammlungen der bildenden Kunst, der Meisterleistungen der Technik und der Wissenschaften hat zu allen Zeiten wissenschaftliche Beachtung gefunden. Auf die Geschichte der Armen und Ausgestoßenen trifft dies weniger zu. Die stadtgeschichtliche Forschung über Dresden hat sich dem Thema Armut während des Durchbruchs der Industriegesellschaft bisher kaum genähert. Die Defizite der Forschung finden auf musealem Gebiet ihre Fortsetzung. Im Stadtmuseum Dresden ist die Anzahl der gegenständlichen Hinterlassenschaften der Minderprivilegierten – der Stadtarmut, des Dienstpersonals etc., auch der Arbeiter – gegenüber der Vielzahl der oft prächtigen Stücke, mit denen sich die Honoratioren der Gesellschaft in ihrem 1891 eröffneten Museum verewigt haben, äußerst bescheiden.“ (Seite 53-54) Die Geschichte nichtbürgerlicher Klassen und Gruppen, etwa der Tagelöhnerinnen und Tagelöhner, bleibt dagegen bis heute fast gänzlich unsichtbar. Derselbe Autor berichtet auch, wie in Dresden auf eine Wirtschaftskrise, nämlich den „Gründerkrach“, mit der Flucht nach Rechts reagiert wurde: „In Dresden verschwand bis Ende der 1880er Jahre ein Drittel aller Handwerksbetriebe! Dies zog nicht nur gravierende Veränderungen in der städtischen Wirtschafts- und Sozialstruktur nach sich, sondern führte auch zur Formierung einer Abwehrfront auf politischem Gebiet, was sich vor allem in der Schwächung der Nationalliberalen und im Aufschwung der konservativ-antisemitischen Sammlungsbewegung zeigte.“ (Seite 60)
Ein abgedruckter Bericht aus dem Buch „Ich war ein Mann der Straße“ des 1972 in Dresden verstorbenen Otto Griebel, beschreibt die „Heringsschlacht“ im Herbst 1923, die ausbrach als sich heraus stellte, das die gespendeten Heringe „voller Würmer“ waren. Die Wut entlud sich in Unruhen. Die Erwerbslosenunruhen am 14. September 1923 in Dresden finden sich auch in einem im Heft abgedruckten Polizeibericht wieder. Allerdings wäre es an dieser Stelle eine Darstellung wünschenswert gewesen, die dieser Quelle einer vernünftigen Kritik unterworfen hätte. Jedenfalls zog am 14. September eine Erwerbslosen-Demonstration mit 2.000 Personen durch Dresden, um der Regierung ihre Forderungen überbringen. Diese Forderungen konnten zwar überbracht werden, aber die Wut blieb, da offenbar nichts geschah. In der Folge kam es immer wieder zu kleineren Demonstrationen, bei denen heutzutage wohl von „Spontis“ gesprochen werden würde.
In dem Beitrag „Nachklänge einer Kindheit“ von Siegfried Blütchen berichtet der Autor über seine Kindheit in der Mittelstraße in Dresden in den 1930er Jahren: „Thema Nummer Eins, Dreh- und Angelpunkt vieler Gedanken und Gespräche war das Essen. Wir waren schon glücklich und zufrieden, wenn wir nicht hungrig zu Bett gehen mussten. Dabei war der Speisezettel sehr einfach. […] Ich bin als Kind immer satt geworden, von meiner Mutter glaube ich das nicht.“ (Seite 72) Es ist der einzige biografische Beitrag eines armen Menschen im Heft.
Sehr spannend liest sich auch der Beitrag „Kultur-Assis“ von Paul Kaiser über „eine progressive Unterschicht in der DDR“. Darin geht es um die kulturelle Gegenszene in der Honecker-Zeit. Antiautoritär gesinnte individualanarchistische und radikal-individualistische Menschen lehnten damals den preussisch-staatssozialistischen Arbeitsethos und die kleinbürgerliche Prägung der DDR-Gesellschaft ab und versuchten sich eine Nische zu schaffen. Dafür nahmen sie auch ihre „Selbst-Proletarisierung“ in Kauf und wurden z.B. Mitglieder in einer Friedhofsbrigade. Im Tausch für ihr vordergründiges Einfügen in die DDR-Gesellschaft ließ der Staat die ‚Kultur-Assis‘ weitgehend zufrieden.
Im letzten Heft-Beitrag „Klassen, Schichten, Milieus“ verwendet der Autor und Soziologie-Professor Karl-Siegbert Rehberg auch die Vokabeln ‚Klasse‘ und ‚Kapitalismus‘, welche in den meisten anderen Beiträgen fehlen und reflektiert das auch selbstkritisch. In diesem Beitrag findet sich erstmals auch empirische Daten, also Statistiken. Allerdings beziehen die sich auf die Bundesrepublik und nicht auf Sachsen oder Dresden im Speziellen.
Es ist bezeichnend, dass in dem Heft ein Beitrag über die Zeit nach der Wende komplett fehlt. So als wäre mit der Wiedervereinigung die Armut ausgestorben. Dabei hätte sowohl die Umbruch-Gesellschaft Anfang der 1990er Jahre, als auch die aktuelle Situation einiges an Material hergegeben. So gelten bis heute die Dresdner Stadtviertel Prohlis und Gorbitz als die ‚Problemviertel‘ Dresdens. Doch stimmt das statistisch betrachtet überhaupt? Wer ist warum arm in Dresden? Wo existieren Räume für Arme und soziale Randgruppen? Wo finden Verdrängungen statt? Und vor allem: Was ist zu tun, um den Einkommensarmen und sozial Marginalisierten mehr Teilhabe zu ermöglichen? Was auch komplett unerwähnt bleibt in dem Heft ist die Tatsache das Armut mehrheitlich weiblich ist. Letztlich stellt dieses Heft nur einen kleine Schritt zur Erschließung der Armengeschichte in Dresden dar.
Dresdner Geschichtsverein e.V.: Armut in der reichen Stadt, Dresdner Hefte Nr. 89, Dresden 2007
Veröffentlicht am 19. August 2019 um 09:36 Uhr von Redaktion in Kultur