Ich denke, es wäre eine gute Chance in Belarus das politische System zu ändern – Interview mit einem Aktivisten aus Belarus
27. März 2020 - 11:07 Uhr
Während in der Europäischen Union Regierungen und Medien daran arbeiten, Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie einzuführen und Menschen sich hierzulande um Toilettenpapier streiten, scheint die Krise an der griechischen Grenze oder die Situation in anderen Ländern immer mehr aus dem Blick zu geraten. Zeit für uns,die Perspektive zu wechseln und uns der kommenden Zeit mit der Situation außerhalb der Bundesrepublik zu beschäftigen. Den Auftakt dazu bildet ein Gespräch mit Genoss:innen aus Belarus über Aktivismus, Corona und die Wirtschaft.
Bisher in der Reihe erschienen:
- See you on the barricades! – Grenzgespräch mit einer Aktivistin von ROG in Ljubljana (6. März 2021)
- „Arbeitskräfte wurden eingeladen, aber es kamen Menschen“ – Grenzgespräch mit Barbora Matysová (7. Februar 2021)
- „The anger and energy level is way bigger….“ – Grenzgespräch mit Nowy Byt Feministyczne (27. November 2020)
- Wir glauben, dass die Menschen die Experten ihres Lebens sind – Interview mit den Aktivist:innen von „Habibi.Works“ (27. Oktober 2020)
- „Nicht mal Müll dürfen wir raustragen“ – Grenzgespräche mit einer Aktivistin aus Serbien (4. Juni 2020)
- Grenzgespräche – Interview mit der antifaschistischen Gruppe „Autonomia“ aus Budapest (21. Mai 2020)
- Dass ist nur eine weitere Strophe des alten Liedes – Grenzgespräche mit Aktivist:innen aus Poznań (14. Mai 2020)
- Grenzgespräche mit der Anarchistischen Föderation Tschechien (6. Mai 2020)
- Grenzgespräche – Interview mit Aktivist:innen von Kopacze Diggers aus Polen (5. April 2020)
- Ich denke, es wäre eine gute Chance in Belarus das politische System zu ändern – Interview mit einem Aktivisten aus Belarus (27. März 2020)
Zum Einstieg: Wer bist Du,was ist Deine politische Agenda und mit welchen Themen beschäftigst Du Dich?
Hallo, ich bin Anarchist und arbeite in einer Druckkooperative in Minsk. Für mich ist die Kooperative Teil meines täglichen Aktivismus. Außerdem mache ich noch bei einem Umsonstladen-Kollektiv mit.
Was passiert gerade in Belarus abseits der Verbreitung von Corona? Soweit wir wissen, gab es eine größere Bewegung gegen ein Steuergesetz in den letzten Jahren?
Die Anti-Steuer-Bewegung ist jetzt drei Jahre her. Ich denke, solche Proteste, ich meine wirklich große Proteste, kommen in Belarus nur einmal in fünf oder acht Jahren vor. Die Leute haben einfach nicht genug Kraft, um bei so etwas immer mitzumachen, denke ich. In diesem Jahr steht eine Präsidentschaftswahl an, im Sommer. Gerade sehe ich nicht, dass die Menschen hier die Kraft haben, gegen Wahlbetrug auf die Straße zu gehen. Am Anfang des Jahres gab es eine riesige Diskussion, um die Vereinigung von Russland und Belarus. Diese Frage ist schon sehr alt, wird seit 20 Jahren von den Regierungen diskutiert. Aber dieses Jahr war das auf jeden Fall ein Höhepunkt. Die belarusische Wirtschaft ist abhängig von russischem Gas und Öl. Russland hat aber für beides die Preise angezogen. Die Bedingung war dann, dass wenn Belarus Öl zu niedrigeren Preise kaufen wolle, es Teil Russlands werden sollte. Für den hiesigen Präsidenten war das natürlich eine schlechte Idee, er würde all seine Macht und Befugnisse auf einen Schlag verlieren. Insgesamt sieht es für mich so aus, dass es vor den Wahlen zu massiven wirtschaftlichen Probleme kommen wird.
Die oben angesprochenen Proteste richteten sich gegen eine die Einführung einer Steuer auf Arbeitslosigkeit, mehr dazu beispielsweise unter:
https://www.hrw.org/news/2017/04/03/belarus-freedom-day-crackdown | https://www.rferl.org/a/belarus-amnesty-human-rights-protests-crackdown/28367341.html | https://abcdd.org/2017/03/27/english-hundreds-protesters-detained-after-massive-wave-of-repressions-in-belarus/
In Deutschland ist die Lage wegen der Verbreitung des Corona-Virus ziemlich angespannt. Geschäfte werden geschlossen, Menschen ins „Home Office“ geschickt und alle Menschen werden aufgerufen, mindestens die kommenden zwei Wochen zu Hause zu bleiben, wahrscheinlich werden die Maßnahmen aber die nächsten Monate andauern. Wie ist die Situation in Belarus?
Bisher sagt die Regierung, dass alles unter Kontrolle sei und nichts Schlechtes passieren wird, da nur ein kleiner Teil der Menschen hier krank sei. Das sagte sie zu einem Zeitpunkt, als rund herum alle Länder ihre Grenzen schlossen. Ich denke, das hat mit der ökonomischen Lage und den anstehenden Wahlen zu tun. Präsident Lukaschenko will zeigen, dass er alles unter Kontrolle hat, während alle anderen Staaten in Panik geraten. Und vor allem müsste die Regierung, wenn sie offiziell sagt, dass es ein Problem gibt und Quarantänemaßnahmen ergriffen werden müssten, Fabriken schließen und Geschäfte unterstützen. Das wäre eine riesige Aufgabe für die Wirtschaft und alles könnte unmittelbar vor den Wahlen zusammenbrechen. Aus meiner Sicht ist die schwierige ökonomische Situation hier vor Ort der wohl der wichtigste Grund, warum die Regierung nichts tun wird
Wir haben gehört, in Belarus gab es in den 1990ern auch schon regelmäßig Schulschließungen und so weiter wegen Influenzaviren. Kannst Du uns mehr über das belarusische Gesundheitssystems erzählen?
Das Gesundheitssystem hier ist kostenlos für alle Bürger:innen. Es ist nicht notwendig, eine Krankenversicherung zu haben, um in einem Krankenhaus behandelt zu werden. Das ist auf der einen Seite gut, aber auf der anderen Seite gibt es diesen riesigen bürokratischen Apparat, wie bei allen Regierungsinstitutionen. In denen bekommen alle Menschen nicht genug Lohn, vergleicht man den mit Gehältern in privaten Schulen oder Krankenhäusern. Darum begegnet Dir in öffentlichen Einrichtungen immer einer großen Welle an Gleichgültigkeit und die Behandlung ist nicht sehr gut. Leute mit Geld bevorzugen dann natürlich private Kliniken, bei denen sie nicht ewig anstehen müssen. So wie ich den ersten Teil der Frage zu den Schulschließungen verstanden habe, war es nicht. Das war nicht im ganzen Land und vor allem eben auch nicht wegen einer unbekannten Krankheit. Aber ja, es war normal, dass Schulen für ein paar Wochen geschlossen wurden. Aber eben nicht für das gesamte Leben.
Gab es Versuche von Arbeiter:innen im Gesundheitswesen, sich zu organisieren oder Selbstorganisationen?
Davon weiß ich nichts.
Im Iran können wir sehen, wie ein ganzes politisches System bei der Virusbekämpfung scheitert. Viele Menschen sagen, dass das auch an der restriktiven Informationspolitik läge. An manchen Orten gab es auch Demonstrationen vor Supermärkten und Krankenhäusern. Denkst Du es gibt eine Chance auf einen politischen Wandel von Regimen deren Gesundheitspolitik fehl schlägt?
Ich denke, es wäre eine gute Chance in Belarus das politische System zu ändern. Auf der einen Seite sind viele Bedingungen für einen Wandel erfüllt: Die schlechte ökonomische Situation, Wahlen, an die die Leute nicht glauben, das Beispiel der Ukraine, welches gezeigt hat, dass es möglich ist etwas zu verändern, wenn wir wollen und bereit sind zu kämpfen. Die Leute hier sehen auch keine Perspektive im Land und wir haben die erfolgreiche Erfahrung von den Anti-Steuerprotesten. Aber der Hauptgrund ist wirklich die wirtschaftliche Situation.
In Deutschland wurden Ersatzfreiheitsstrafen weitgehend ausgesetzt. Inhaftierte klagen über die mangelnde Versorgung mit medizinischer Hilfe. Kannst Du etwas zur Situation in den Gefängnissenbei euch sagen?
Soweit ich weiß gibt es in manchen Gefängnissen Quarantänemaßnahmen und Besuchsverbote. Die Gefängnisleitungen erlaubten außerdem zusätzliche Versorgungspakete mit 10 Kilogramm mit Früchten, Gemüse und Vitaminen.
Volkswagen schloss am Freitag die Produktion in Deutschland. Was denkst Du werden die Auswirkungen auf die belarussische Wirtschaft sein?
Die Wirtschaft hängt fast vollständig von Russland und den Steuern auf Privatgeschäfte ab. Zum ersten Mal versucht die Regierung vor den Wahlen jetzt Geld zu bekommen, egal woher. Wir leben die ganze Zeit in einer Krise. Die Krise wird hier vielleicht nicht so ein Schock werden, wie an Orten, wo es normalerweise kaum größere ökonomische Probleme gibt. Die meisten Geschäfte und Firmen werden so lange versuchen zu öffnen, wie möglich und es gibt bislang auch keine Gesetze, Massenevents zu limitieren, auch die Schulen sind offen. Im Unterschied dazu haben die meisten NGOs, auch Orte und Läden entschieden, sich freiwillig selbst zu isolieren.
Vielen Dank für das Gespräch und alles Gute für Dich und Deine Genoss:innen!
Foto: https://www.flickr.com/photos/marcofieber
Veröffentlicht am 27. März 2020 um 11:07 Uhr von Redaktion in International