Wohnungsgenossenschaft Johannstadt droht Corona-Solidaritätsaktion von e*vibes mit Anzeige
3. April 2020 - 19:42 Uhr
Mit der am 1. April in Kraft getretenen Corona-Schutz-Verordnung ist der Bewegungsradius weiter erheblich eingeschränkt und damit viele Familien und Partner:innenschaften zu einem Zusammenleben auf engsten Raum gezwungen. Durch die soziale Isolation und geschlossene Hilfsangebote drohen erhebliche Gefahren. So ist u.a. mit einem starken Anstieg häuslicher Gewalt zu rechnen. Die Gruppe e*vibes hatte die Gefahren und Folgen der Ausgangsbeschränkungen bereits seit Wochen im Blick und aus diesem Grund Plakate, Flyer und Sticker mit Telefonnummern von offiziellen Anlaufstellen zur Verfügung gestellt, welche von ihnen sowie Unterstützer:innen im Dresdner Stadtgebiet verteilt wurden. Jetzt wurde die Gruppe von der Wohnungsgenossenschaft Johannstadt (WGJ) wegen dieser Plakate abgemahnt.
Die feministische Gruppe e*vibes druckte bereits vor mehr als zwei Wochen Plakate mit verschiedenen offiziellen Hilfenummern wie der „Nummer gegen Kummer„, den Dresdner Telefonnummern vom „Kinder- und Jugendnotdienst“ oder des „Frauenschutzhauses„. Gegenüber addn.me erklärt die Sprecherin Gloria Lust die Aktion: „Gemeinsam solidarisch sein, heißt in Zeiten von Corona auch: hinschauen, wenn es zu Gewalt kommt in den Nachbarschaften. Unterstützt die Betroffenen! Das war die Botschaft die wir den Leuten noch mitgeben wollten, bevor es zu den absehbaren Beschränkungen im gesellschaftlichen Leben kommt“.
Fast flächendeckend verteilten die Aktivist:innen die Plakate an Litfasssäulen, Hauseingängen und Stromkästen. Auch verschiedene Supermärkte hingen die Aushänge aus. Ob in Johannstadt, Striesen oder Prohlis – in vielen Stadtteilen sind die bunten Plakate mit den groß geschriebenen Telefonnummern zu sehen. Unlängst bekamen die Tätigkeiten der Gruppe jedoch einen Dämpfer. Nach Angaben von Gloria Lust hatte sich am vergangenen Dienstag ein Hausmeister der WGJ bei der Helpline der Opferberatung gemeldet und aufgebracht gefordert, das Anbringen von Plakaten zu unterlassen. Wenige Stunden später erreichte e*vibes eine Unterlassungserklärung der WGJ. In der addn.me vorliegenden Mail heißt es: „Zum wiederholten Male mussten wir feststellen, dass Ihr Verein in unseren Wohnhäusern Aufkleber zum Thema ‚Corona‘ anbringt. Wir fordern Sie hiermit zur sofortigen Unterlassung dieser Tätigkeiten auf“. Andernfalls, so heißt es in dem Schreiben weiter, droht die Genossenschaft mit einer Anzeige. Gegenüber addn.me begründete die WGJ die Maßnahme damit, dass gerade zu viele unseriöse Plakate zum Thema aufgehängt würden und deswegen alle Informationen zunächst geprüft und von der WGJ freigegeben werden müssten. Warum die WGJ die Aushänge von e*vibes nicht freigegeben hat und stattdessen eine Abmahnung versendete, dazu machte der Vorstand der WGJ gegenüber addn.me zunächst keine Angaben.
Die e*vibes Sprecherin Lust zeigt sich besorgt über den Vorfall: „Dass dieser Hausmeister mit einem derartigen Anliegen bei einer Helpline für Menschen die in schweren Problemsituationen stecken anruft und sich beschwert, ist schon schockierend. Schlichtweg ein Skandal ist es, dass wir jetzt unter Androhung einer Anzeige auch noch gestoppt werden sollen, diese wichtigen Plakate mit notwendigen Hilfsnummern zu verbreiten“. Weiter führt Gloria Lust aus: „Es zeigt einmal mehr, wer sich in solchen Krisensituationen sozialer Probleme bewusst ist und sich solidarisch verhält. In diesem Fall sind wir enttäuscht: Von einer Wohnungsgenossenschaft hätten wir erwartet, dass sie sich ihrer sozialen Verantwortung bewusst ist und ihren Bewohner:innen Hilfe anbietet“. Weiterhin bleibt unklar, ob die Plakate in den Gebäuden der WGJ von e*vibes selbst oder Unterstützer:innen der Kampagne aufgehangen worden sind. e*vibes hatte die Plakate im gesamten Stadtgebiet an Unterstützer:innen ihres Anliegens versendet.
Die Gruppe kündigte jedoch bereits an, weiter zu machen. Besonders in der jetzigen Zeit wäre es unerlässlich, so Gloria Lust, auf die Probleme von häuslicher und anderen Formen psychischer und physischer Gewalt aufmerksam zu machen. „Aber auch über Corona hinaus werden wir Gewalt gegen Frauen* weiterhin thematisieren – Unterlassungserklärung hin oder her“, schließt die Sprecherin gegenüber addn.me ab. Die Gruppe endete in ihrem Statement mit der Forderung eines Ausbaus und der kontinuierlichen finanziellen Unterstützung von Schutzhäusern für Betroffene von Gewalt. Gleiches gelte für Beratungsinstanzen, wie Helpline DD, die besonders in der Zeit nach Corona in Anspruch genommen werden dürften. e*vibes warte deshalb gespannt auf die 2019 zugesicherten 120 Millionen Euro des Bundesförderprogramms „Gemeinsam gegen Gewalt an Frauen„, welches sich dieser Aufgabe verschrieben hat.
Hintergrund der e*vibes Kampagne sind die Erfahrungen aus anderen Ländern mit Ausgangsbeschränkungen sowie dem viral gegangenen Hashtag #stayathome bzw. das deutsche Pendant #wirbleibenzuhause. Was notwendig ist, um die Corona-Pandemie einzudämmen, hat seine Schattenseiten. Neben Bewegungsmangel und Einsamkeit, kann social distancing in Zusammenhang mit körperlichen Beschwerden, Depressionen, Angstzuständen, posttraumatischen Belastungsstörungen oder anderen psychischen Problemen stehen. Eine besondere Gefahr besteht in einem starken Anstieg von häuslicher Gewalt. In der Isolation und dem erzwungenen Miteinandersein auf möglicherweise engstem Raum, steigt das Stresslevel. Dies kann vermehrt zu Gewalt führen, die sich gegen das direkte Umfeld, oft die Familienmitglieder oder Lebenspartner:innen richten kann. Ein Entkommen aus der Situation ist aufgrund der geltenden Ausgangsbeschränkungen kaum möglich. Zudem brechen durch die geringen sozialen Kontakte auch letzte Kontrollinstanzen wie Freund:innen, Schule oder Arbeit weg.
In China bestätigten sich solche Befürchtungen, die nun auch in Deutschland drohen. Dort meldeten die Frauenrechtsaktivist:innen der NGO Weiping in Beijing eine Verdreifachung der Anfragen zu häuslicher Gewalt seit Beginn der Isolationsmaßnahmen im Januar 2020. Und das, obwohl viele sich aufgrund der räumlichen Nähe gar nicht mit den Hilfsstellen in Verbindung setzen können. Wie bereits vor Corona kann zudem von einer deutlich höheren Dunkelziffer ausgegangen werden.
Nicht nur in China ist das Problem häuslicher Gewalt präsent. Auch aus Spanien wurde in der Vergangenheit immer wieder über versuchte Tötungen von Lebenspartner:innen berichtet. Auf Vorschlag einer Initiative können sich Betroffene dort mit einem Codewort Unterstützung in Apotheken und vielen Supermärkten holen. Zuletzt berichtete die Geschäftsführerin der Frauenhauskoordinierung Heike Herold in einem Interview mit der Tagesschau über häusliche Gewalt in Zeiten von Corona. Sie geht davon aus, dass auch in Deutschland die Zahlen erheblich ansteigen werden. Besonders Sorgen machten ihr die schon vor Corona überlasteten Frauenhäuser: „Es braucht schnelle und kreative Lösungen, etwa um alternative Schutzunterkünfte und eine entsprechende Beratung der Frauen zu sichern oder polizeiliche Maßnahmen zum Schutz der Frauen in ihren Wohnungen zu ergreifen.“ mahnt Herold.
Der Umgang der WGJ mit den Plakaten von e*vibes zeigt, dass die an allen Orten gern zitierte Solidarität ihre Grenzen hat. Darüber hinaus verdeutlicht es, dass häusliche Gewalt in Deutschland häufig noch ein Thema ist, das aus der öffentlichen Wahrnehmung verdrängt werden soll. Dabei wäre die Corona-Krise eine große Chance, offen über solche Themen zu sprechen und Betroffenen auch über die Zeit der Isolation hinaus zuzuhören und sie zu unterstützen.
Foto: https://twitter.com/AntifaLoebtau/status/1241826443409137667
Veröffentlicht am 3. April 2020 um 19:42 Uhr von Redaktion in Freiräume, Soziales