In der Linken wie auch im Rest der Gesellschaft: Umgang mit sexuellem Missbrauch mangelhaft
24. Oktober 2022 - 20:53 Uhr
Im Folgenden dokumentieren wir ein Interview, das addn.me in Kooperation mit der Gruppe e*space mit einem Betroffenen von sexuellem Missbrauch geführt hat. E*space hat dazu einen Erfahrungsbericht veröffentlicht, in der Christian seine Geschichte ausführlich wiedergibt. Inhaltswarnung: Der Bericht enthält explizite Schilderungen des Missbrauchs. Seine Erfahrungen stehen dabei stellvertretend für eine Gesellschaft, in der sexuelle Gewalt zwar immer wieder für Skandalmeldungen reicht, Betroffene aber bei konkreten Vorfällen selten adäquate Unterstützung erhalten. Die geschilderten Erfahrungen sind geprägt von mangelhafter Empathie, Bagatellisierung von Gewalt, Victim Blaming und Homofeindlichkeit – auch in linken Umfeldern. Diese Zustände lassen sich nur verändern, wenn darüber gesprochen wird:
Hallo Christian, wir möchten mit dir ein Interview zu deinen Erfahrungen im Umgang mit sexuellem Missbrauch führen. Möchtest du dich am Anfang kurz vorstellen?
Ich bin 43 Jahre alt und nicht in Sachsen geboren. Über mehrere Umwege zog ich 1992 in die Nähe von Annaberg-Buchholz und 1996 nach Freiberg. Meine politischen Aktivitäten begannen 1995 zaghaft im Bereich Alternativkultur. Seit meinem Umzug nach Freiberg lagen meine Schwerpunkte wechselnd zwischen linker Subkultur, Antifaschismus, politischer Bildung, Sozial- sowie Kommunalpolitik und zwischenzeitlich über einen längeren Zeitraum auch Parteiarbeit.
Als du als Jugendlicher sexuell missbraucht wurdest, hast du in einer kleinen Ortschaft gewohnt. Wie bist du damals damit umgegangen?
Ich habe versucht, mir nichts anmerken zu lassen. In meiner Schule haben sich meine Mitschüler darüber amüsiert. Um diesen Menschen keine zusätzlichen Erfolgsmomente zu verschaffen, wollte ich nicht, dass meine Umgebung mitbekommt, was dies in mir auslöste.
Wir können uns gut vorstellen, dass damals Unterstützung wichtig für dich gewesen wäre. Was für Reaktionen kamen aus dem Umfeld?
In meiner Familie wurde darüber so gut wie nicht gesprochen. Nachdem Mitschüler den Übergriff mitbekamen, amüsierten sie sich darüber während des Unterrichts. Als eine Lehrerin dies bemerkte beteiligte sie sich daran. Es wurde in der Schule behauptet, anstelle des Täters wäre ich allein an dem Missbrauch schuld, weil mein jugendliches Verhalten angeblich nicht zu der „Erzgebirgskultur“ passen würde. „Du bist hier ins Erzgebirge gezogen, da hat man sich anzupassen!“, habe ich als Kommentar gehört.
Nachdem Mitschüler merkten, dass ich schwul bin, wurde offen darüber gesprochen, dass dies kein sexueller Missbrauch „sondern der richtige Gebrauch“ gewesen wäre, ich mich „nicht so haben“, den Vorfall als meinen ersten Sex betrachten und genießen soll. Dabei äußerten sie sich ähnlich wie der missbrauchende Täter.
Das waren ja heftige Reaktionen. Was hättest du dir stattdessen in der Situation gewünscht?
Das kann ich nicht genau sagen. Es wäre schön gewesen, wenn mensch mich aufgefangen und empathisch begleitet hätte.
Später bist du in eine größere Stadt – nach Freiberg – umgezogen. Was hat sich dadurch für dich verändert?
Zum Einen musste ich nicht mehr ständig mit blöden Kommentaren bezüglich des Missbrauchs rechnen. Zum anderen habe ich ein größeres Maß an gesellschaftlicher Offenheit vorgefunden, um mich entfalten und mich in emanzipatorischen politischen Strukturen betätigen zu können. Auch in meinem neuen Wohnort gab (und gibt) es Ausgrenzung und Diskriminierung, aber die nicht mehr ganz so krasse Engstirnigkeit habe ich als einen großen Zugewinn persönlicher Freiheit empfunden.
Du hast schon früh angefangen, dich politisch zu engagieren. Was für Erfahrungen hast du in diesem Umfeld gemacht?
Sehr unterschiedliche… Gerade ältere Menschen, z.b. in der damaligen PDS waren froh wenn jüngere Menschen auftauchten, erwarteten dann aber oft, dass diese ihre Gedankengänge und politische Positionen übernehmen, statt eigene zu entwickeln und eine moderne linke Politik zu vertreten. Mit jüngeren Menschen entwickelte sich aus gemeinsamen Engagement mein soziales Umfeld.
Sind die Erfahrungen mit nicht parteigebundenen Linken anders als in der Partei DIE LINKE?
Ich denke das hängt eher mit dem Alter zusammen. Die örtliche Linkspartei hat die Tendenz junge Menschen lediglich pro forma einzubinden. Unausgesprochen haben sie die Aufgabe den politischen Inhalten der älteren Genossen und Genossinnen ein jugendliches Image zu verpassen. Junge Menschen treten in Freiberg deshalb früher oder später wieder aus der Partei aus. Da aufgrund der hiesigen Universität sich immer mal wieder politisch links verortete Studentinnen und Studenten nach Freiberg verirren, findet die Linkspartei regelmäßig wieder ein neues „Maskottchen“, dass ein paar Jahre durchhält. Bei nicht parteigebundenen Linken, aber auch bei vielen jungen Linken im Parteiumfeld bemerkte ich eine erheblich größere Offenheit für emanzipatorische Inhalte.
Du gehst seit 1996 offen mit deiner Homosexualität um. Hast du den Eindruck dass auch eine verbreitete Homofeindlichkeit im ländlichen Sachsen eine Rolle für deine schlechten Erfahrungen spielt?
Mit Sicherheit, ein Teil der Kommentare in der Schule, welche den sexuellen Missbrauch rechtfertigten, hatte homophoben Charakter und die im Erzgebirge stark verbreitete Homophobie spielte eine große Rolle.
Das klingt so, als hättest du da auch persönliche Erfahrungen mit Homophobie in der Linkspartei gemacht. Was war da los und was hat das mit dir gemacht?
Ja, ein lokaler Funktionär der Linkspartei hat sich mit makaberen Kommentaren darüber amüsiert, dass ich als Jugendlicher sexuell missbraucht wurde und sich an meiner betroffenen Reaktion erfreut. Als ich dieses Verhalten innerparteilich angesprochen hatte, wurde es teilweise als persönlicher Streit abgetan. Einige rechtfertigten diese Kommentare, weil ich mich gegen ein vorangegangenes homophobes Mobbing auf der gleichen Ebene wehrte, auf welcher ich persönlich attackiert wurde. Der Ortsvorsitzende weckte den Eindruck als gäbe es keinen diskriminierenden Täter und diskriminierte Betroffene mehr, sondern „zu einem Streit gehören zwei“ und beide wurden auf eine Stufe gestellt. Anschließend erfolgte ein Messen mit zweierlei Maß – während bei dem Täter bei jeder noch so verletzenden Äußerung beide Augen zugedrückt wurden, wurde bei mir jede Geste und Tonlage auseinandergenommen, um diese als ursächlich für die „Auseinandersetzung“ zu bestimmen. Mit diesen Mechanismen wurde dann auch der sexuelle Übergriff gerechtfertigt und der innerparteiliche Täter kürzlich mit nur einer Gegenstimme wiedergewählt.
Homophobe Vorurteile sind hier teilweise auch bei Personen verbreitet, die sich nicht als homophob verstehen. Meistens äußern sie diese Vorurteile als vermeintliche „natürliche Betrachtung“. Die Menschen verdrängen, dass die von ihnen wahrgenommene „Realität“ keinen objektiven Charakter hat, sondern von ihren eigenen Vorurteilen geprägt und reproduziert wird. Allerdings bewegt sich hier auch eine Menge. Gerade jüngere Mitmenschen gehen oft unvoreingenommener an die Thematik heran.
Die Linkspartei ist nur etwas fortschrittlicher als der Rest der Bevölkerung. Homophobie wird nicht offen ausgelebt und viele Mitmenschen distanzieren sich davon. Das ändert jedoch nichts an dem Vorhandensein von Vorurteilen. Sie sind mitunter schwächer ausgeprägt und werden weniger offen geäußert, sind aber ebenso vorhanden wie in der restlichen Gesellschaft.
Als Schwuler wurde ich in Diskussionen weniger ernst genommen, durfte seltener ausreden und musste mich öfter mit unqualifizierten Störungsbeiträgen herumplagen. In der Praxis wird an der Basis der Linkspartei bei homophoben Mobbing erwartet, „dass du das über dich ergehen lässt“. Die sich so äußernden Personen werden innerparteilich als „männlich stark“ wahrgenommen, sich gegen Diskriminierung zu wehren als störend empfunden. Homophobe Diskriminierung „übersieht“ mensch in der Linkspartei gern oder verharmlost diese. Widerstand gegen Diskriminierung steht formal auf der gleichen Ebene wie die Diskriminierung an sich, es findet eine Täter-Opfer-Umkehr statt.
Das hört sich ja nach einem ziemlich ignoranten Umgang mit deinem Erlebten an, was für Konsequenzen hatte das für deine politische Aktivität?
Mir wurde bewusst, dass in der Linkspartei emanzipatorische politische Arbeit nicht mehr möglich ist. Dort erfolgt eine grundlegende Negierung von humanistischen Grundwerten, welche wichtige Eckpfeiler des Fundaments ausmachen, auf dem die Linkspartei steht. Es ist für mich ein Ding der Unmöglichkeit z.B. an einem Wahlkampfstand zu behaupten, diese Partei tritt für Werte ein, von denen ich weiß, dass diese von den anderen „Genossinnen und Genossen“ bestenfalls missachtet und in diesem Fall ins Gegenteil verkehrt werden. Die Partei hat sich von ihrem ursprünglich vorhandenen teilweise emanzipatorischen Charakter verabschiedet, auch wenn sie sich in ihren Wahlkampagnen noch immer auf diesen beruft. Das mag an der Basis zum Teil anders sein, aber ab der mittleren Ebene sind den dort handelnden Personen diese Werte mehrheitlich scheißegal. Dadurch hat die Linkspartei ihre Wählbarkeit verloren.
Das bedeutet für mich jedoch keine Beendigung meiner Aktivitäten. Ich arbeite auf zivilgesellschaftlicher und subkultureller Ebene weiter. Für ein politisches Engagement bedarf es meiner Meinung nach keiner parteipolitischen Organisationen – es rettet uns kein höh’res Wesen, kein Gott, kein Kaiser noch irgendeine (Links-)Partei.
Du fragst in deinem Erfahrungsbericht, ob sexueller Missbrauch ein Teil der Erzbirgskultur ist. Meinst du dass da ein größeres Problem dahintersteht? Worin siehst du die Ursachen hierfür?
Mögliche Ursachen sehe ich u.a. in der konservativ-reaktionären Grundhaltung der Region nicht nur im Bereich der Sexualität, einem libidinösen Regionalfetischismus, der selbst den krankhaft überhöhten „Sachsenstolz“ schlägt, und die Bereitschaft zur Übernahme „alternativer Fakten“. Das „Arzgebirg“ gilt auch als „Bible Belt“. Hier gibt es eine Vielzahl homophober evangelikaler Sekten mit fundamentalistischer Bibelauslegung. Gerade viele Vertreterinnen und Vertreter der älteren Generation in den höheren Gebirgsregionen sehen darin lediglich eine „konsequente Religiosität“ und empfinden es als legitim, wenn mit der Begründung „steht in der Bibel“ diverse Personengruppen wie z.B. LGBTIQs ausgegrenzt werden.
Du engagierst dich nach wie vor in Freiberg, was hat dich dazu bewogen dort zu bleiben und was gibt dir die Kraft vor Ort?
Wenn hier alle weggehen, die eine progressive Veränderung herbeisehnen, werden wir diese Veränderung nie erreichen. Auch wenn in regelmäßigen Abständen zahlreiche Menschen wegziehen, ist diese Stadt immer noch groß genug, dass sich ebenso regelmäßig progressive Menschen finden, mit denen subkulturelle Veranstaltungen oder politisch emanzipatorische Anstöße organisiert werden können. Dass diese Stadt nicht besonders groß ist, hat aber auch Vorteile. Hier landet mensch mit relativ geringem Aufwand z.B. auch mal in der Lokalpresse und damit im öffentlichen Bewusstsein. Ähnliche Aktionen würden in Dresden oder Leipzig in der gesellschaftlichen Wahrnehmung untergehen.
Kraft geben mir regelmäßige kleine Erfolge auf unterschiedlichsten Gebieten. Ich engagiere mich nicht nur politisch sondern auch kulturell, betreibe Kraftsport sowie eine asiatische Kampfkunst (Schwarzgurt) und entwickle mich auch auf beruflicher Ebene kontinuierlich weiter.
Gibt es zum Abschluss noch etwas was du unseren Leserinnen und Lesern mitgeben willst?
„Alles verändert sich, wenn du es veränderst, doch du kannst nicht gewinnen solange du allein bist“. (Ton Steine Scherben)
Vielen Dank für das Interview!
Bildquelle: Wikipedia
Veröffentlicht am 24. Oktober 2022 um 20:53 Uhr von Redaktion in Feminismus