Demonstration zum Femizid in Neuschwanstein – „Ni una menos“
21. Juni 2023 - 11:04 Uhr - Eine Ergänzung
Ein Gastbeitrag
Am Sonntag, den 18.06.2023 fand in Dresden eine Demonstration als Reaktion auf den Femizid, versuchten Femizid und sexuellen Angriff in Neuschwanstein am vergangenen Mittwoch statt. Zu Beginn der Demonstation wurde die Gewalt als patriarchale Gewalt eingeordnet und eine Schweigeminute in Gedenken und Gedanken an die beiden Frauen, ihre Freund*innen und Familien abgehalten. Anschließend zogen die ca. 60 Demonstrant*innen durch die Dresdener Neustadt. Die Demonstration fand unter Ausschluss von cis Männern statt, um sich gemeinsam als Betroffene dieser Gewalt gegen Femizide und für das uns verwehrte Recht auf ein würdiges Leben ohne patriarchale Gewalt zusammenzuschließen.
Die Demonstration wurde durch den spontanen Zusammenschluss von Einzelpersonen organisiert. Zu Beginn der Demonstration wurde der folgende Redebeitrag gehalten, der an dieser Stelle die Einordnung des Mordes als Femizid und als patriarchale, politische Gewalt verdeutlichen soll. Es ist ein Redebeitrag, der sich in Solidarität, gemeinsamer Betroffenheit und gemeinsamem Kampf an alle Frauen, Lesben, nicht-binären Personen und trans Männer richtet – in der Hoffnung, dass in dem geteilten Leid, der Wut und dem Sichfinden in den Erfahrungen der anderen Trost und das Potential, alle Verhältnisse umzuwerfen, liegen können.
Redebeitrag Demo Femizid Neuschwanstein
Warum sind wir heute hier?
Letzten Mittwoch wurde eine 21-jährige Frau in Neuschwanstein von einem Mann sexuell angegriffen und ermordet. Eine 22-jährige Frau überlebte die versuchte Ermordung.
Bei dem Mord handelt es sich um einen politischen Mord. Die beiden Frauen wurden als Frauen angegriffen und als Frauen wurden sie sexuell angegriffen.
In einer Gesellschaft, die Gewalt an Frauen nicht ernst nimmt – sie entweder sensationslustig ausschlachtet oder verharmlost. In einer Gesellschaft, die diese Morde nicht als das anerkennt, was sie sind: Femizide, also politische Morde an Frauen, weil sie Frauen sind oder als solche verstanden werden.
In einer Gesellschaft, die dieser Gewalt viel zu wenig entgegensetzt.
In einer Gesellschaft, die diese Gewalt hervorbringt und vielfach zu rechtfertigen weiß.
Wir sind wütend und wir sind traurig.
Statistisch gesehen wird jeden dritten Tag eine Frau in Deutschland Opfer eines Femizids. Dies geschieht in der Regel durch ihren Partner oder Expartner. Der Begriff Femizid wurde vor allem durch feministische Kämpfe in Lateinamerika und die Bewegung „Ni una menos“ bekannt und ist ein Instrument, um diese Gewalt zu fassen.
Frauen wird durch Femizide das Leben genommen.
Und auch wenn wir leben, wird uns durch patriarchale Gewalt Leben genommen, werden wir um Aspekte eines würdigen Lebens beraubt.
Wir sind patriarchaler Gewalt in offenkundigen und in subtilen Formen ausgesetzt.
Subtiler durch Sozialisationsbedingungen und ökonomische Strukturen und offenkundiger durch direkte zwischenmenschliche Gewalt.
Wir werden ausgebeutet für unbezahlte Sorgearbeit und schlecht entlohnte Lohnarbeit.
Wir werden ausgebeutet für unsere Körper und reproduktiven Fähigkeiten.
Wir werden sexuell ausgebeutet. Wir werden dazu angehalten, Männer zu begehren und von ihnen begehrt werden zu wollen. Für abweichendes Verhalten werden wir sanktioniert.
Wir werden durch Belästigung und Übergriffe im öffentlichen Raum in unserer Bewegungsfreiheit und in unserer Lebensführung beschränkt.
Uns wird bei unserer Geburt ein Geschlecht zugewiesen, wir sollen uns damit identifizieren und unser Leben entsprechend der Geschlechternormen leben.
Wir alle sind von dieser Gewalt betroffen.
Unsere Selbstidentifikation ist dem Patriarchat dabei egal.
In dem Moment, in dem wir Frauen sind – egal ob trans oder cis – oder als Frauen gelesen werden, trifft uns misogyne, also frauenfeindliche Gewalt.
Als Frauen und als nicht-binäre Menschen sind wir zum einen auf die gleiche Art und Weise und zum anderen ja nach Selbstidentifikation in spezifischer Weise von dieser Gewalt betroffen. Auch als trans Männer trifft uns patriarchale Gewalt.
Wir alle sind wütend und wir alle sind traurig.
Und oft haben wir alle auch Angst.
Wir alle erleben in unserem Leben verschiedene Formen von Gewalt:
verbale Gewalt, körperliche Gewalt, abwertende Blicke. Sexuelle und sexualisierte Gewalt. Nicht ernst genommen werden. Belächelt werden.
Es soll uns Angst gemacht werden.
Wir sollen immer wieder daran erinnert werden, dass wir nicht sicher sind.
Wir sollen daran erinnert werden, dass wir nicht denken sollen, dass wir jemand sind in dieser Welt oder jemand sein können.
Wir sollen immer wieder daran erinnert werden, dass wir uns cis Männern unterordnen zu haben, dass wir ihnen dienen sollen, dass wir verfügbar sein sollen, dass wir ausbeutbar sein sollen.
Wir werden auf unsere Körper reduziert und beginnen vielfach, uns selbst und uns gegenseitig auf unsere Körper zu reduzieren.
Wir verinnerlichen die Abwertung, die wir von außen erfahren.
Viele von uns kennen die Unzufriedenheit bis hin zu Hass auf sich selbst und auf den eigenen Körper.
Die Gesellschaft findet uns: zu dick, zu dünn, zu laut, zu leise, zu kompliziert, zu langweilig, zu schön, zu hässlich, zu prüde, zu schlampig, zu dumm, zu schlau, zu faul, zu strebsam, zu viel, zu wenig.
Für die Gesellschaft sind wir immer das: zu viel und zu wenig.
Zu männlich, zu weiblich, zu uneindeutig.
Und dann manchmal finden wir das selbst. Wir bewerten uns selbst und uns gegenseitig nach diesen Einordnungen. Wir erhalten: einen völlig entfremdeten Zugang zu uns selbst, unseren Körpern und unseren Bedürfnissen.
Wir werden in ein Konkurrenzverhältnis zueinander gesetzt, damit wir uns nicht miteinander gegen diese Gewalt solidarisieren. Wir sollen vereinzelt und gespalten sein und bleiben. Wir sollen uns dem Ganzen nicht so leicht widersetzen, wir sollen nicht aufbegehren. Wir sollen all die Gewalt verinnerlichen, wir sollen uns schämen für das, was uns angetan wird, wir sollen die Schuld bei uns selbst suchen.
ABER: Wir machen da nicht mit!
In den Momenten, in denen wir es schaffen, über die Angst hinauszuwachsen;
In den Momenten, in denen wir es schaffen, uns nicht für die Gewalt, die uns angetan wird, zu schämen und die Schuld bei uns zu suchen;
In den Momenten, in denen wir es also schaffen, diese Gewalt nicht gegen uns zu richten;
In diesen Momenten kommt die Wut.
Und diese Wut ist eine Wut, vor der die Gesellschaft sich fürchten sollte.
Diese Wut ist etwas, vor dem alle sich fürchten sollten, die uns auf verschiedenen Wegen unser Leben nicht leben lassen.
Mit dieser Wut gehen wir heute auf die Straße;
Mit dieser Wut leben wir unsere Leben;
Und mit dieser Wut werden wir früher oder später alles einreißen, was uns an einem freien und selbstbestimmten Leben hindert!
Denn wir wissen, in Anlehnung an die Worte von Audre Lorde: Our Silence will not protect us – Unser Schweigen wir uns nicht schützen!
Und deswegen werden wir laut sein: Für die Freiheit, für das Leben, für uns.
Wir werden unsere ermordeten Schwestern und Geschwister nicht vergessen. Wir werden Neuschwanstein nicht vergessen. Und wir werden nichts, gar nichts von alldem jemals vergeben.
Geschrieben von I.H. für die Organisatorinnen der Demonstration
Erreichbar ist sie unter lysistrata[at]systemli.org
Veröffentlicht am 21. Juni 2023 um 11:04 Uhr von Redaktion in Feminismus
Warum wurde die Demonstration als „flinta-only“ durchgeführt bzw. angekündigt? Erschließt sich bei dem Thema nicht so richtig, im Gegenteil geht doch auch und gerade Männer etwas an.