Gedenken an Deportationen aus Dresden vor 80 Jahren
23. Januar 2022 - 18:44 Uhr
Anlässlich der ersten Deportationen von Jüdinnen und Juden aus Dresden vor 80 Jahren fand am Abend des 20. Januars am Alten Leipziger Bahnhof (Eisenbahnstraße 1) eine Gedenkveranstaltung statt. Dazu hatte auf Initiative von „Herz statt Hetze“ ein Bündnis aus der Dresdner Zivilgesellschaft mit einem Aufruf „Der Alte Leipziger Bahnhof soll Gedenkort werden!“ eingeladen. Zum Bündnis gehören beispielsweise der RAA e.V., das Kulturbüro Sachsen e.V. , das HATiKVA e.V. , der Stolperstein e.V. und die jüdischen Gemeinden. Etwa 100 Menschen folgten der Einladung. Über einen eigens eingerichteten Livestream verfolgten weitere 100 Menschen die Veranstaltung.
Am Morgen des 21. Januar 1942 waren 224 Männer, Frauen und Kinder aus Dresden in Sonderzügen der Deutschen Reichsbahn vom Güterbahnhof Dresden-Neustadt in das Ghetto von Riga deportiert worden. Nur wenige von ihnen entkamen der Vernichtung. Zu ihnen zählen Manfred Ogrodek aus Dresden und Esra Jurmann aus Pirna, die als 11- bzw. 12-Jährige zusammen mit ihren Familien deportiert worden waren. Ihre Berichte über die Entrechtungen und Schikanen seit der Machtübernahme der NSDAP und über den Transport selbst, für den die Deportierten die Kosten aufbringen mussten, waren Gegenstand des Redebeitrages von Katharina Wüstefeld vom Autor*innenkollektiv audioscript.
Wolfram Nagel, der das Grußwort für die Jüdische Gemeinde zu Dresden sprach, erinnerte an Arthur Oskar Chitz, Pianist, Komponist und Musikdirektor des Schauspielhauses Dresden. Er verlor 1933 seine Ämter, wurde in der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 in so genannte Schutzhaft genommen und später im Konzentrationslager Buchenwald interniert. Er und seine Frau Gertrud Helene Chitz gehörten ebenfalls zu den Menschen, die am 21. Januar 1942 deportiert wurden. Sie starben 1944 im Konzentrationslager Riga-Kaiserwald. Auch die 61-jährige Recha Aris, Mutter von Helmut Aris, wurde zu diesem Transport einbestellt. Sie wurde 1943 im KZ Riga-Kaiserwald erschossen. Ebenso erhielt Max Wollf, Kaufmännischer Leiter im Verlag der Dresdner Neuesten Nachrichten und Bruder des Chefredakteurs Julius Ferdinand Wollf den Deportationsbescheid für den Transport am 21. Januar 1942. Er nahm sich am 20. Januar das Leben.
„Wenig Licht hat Kraft viel Dunkelheit zu vertreiben!“ – so der Rabbiner Akiva Weingarten von der Jüdischen Kultusgemeinde Dresden, welcher an die Teilnehmer:innen appellierte, aus der Geschichte zu lernen und sich gemeinsam für eine bessere Zukunft einzusetzen. In Gedenken an die deportierten Dresdner Jüdinnen und Juden sprach er im Anschluss das Kaddish.
Nichts erinnert heute vor Ort an die Deportationen. Aus dem Zustand des brach gefallenen Geländes, der Ruine des Bahnhofsgebäudes spräche Verdrängung und Ratlosigkeit, erklärte Katharina Wüstefeld in ihrer Rede. Daher unterstrich André Lang von Herz statt Hetze, dessen Familie 1937 der Shoah durch Emigration nach England entkam, in seinem Redebeitrag die Forderung des Bündnisses nach einer Erinnerungs- und Begegnungsstätte auf dem Gelände des Alten Leipziger Bahnhofs und richtete seinen Appell an eine zeitnahe Realisierung direkt an den ebenfalls anwesenden Oberbürgermeister Dirk Hilbert. Den Abschluss der Veranstaltung bildete das Grußwort von Anna Rauser, Mitglied der Jüdischen Gemeinde zu Dresden und Studentin der Kunstgeschichte. Sie sprach über ihr feministisches und erinnerungspolitisches Engagement und die Notwendigkeit, sich gegen Antisemitismus und Rassismus einzusetzen.
Zur Gedenkveranstaltung gehörte auch eine Installation und ein Audioloop. Mit dem Anbringen der Schilder „Wann. Wieviele. Wohin.“ an der Fassade des Alten Leipziger Bahnhofs hat der Künstler David Adam eine zu mindestens temporäre Markierung vorgenommen. Zusätzlich angebrachte QR-Codes führen auf die Website wann-wieviele-wohin, welche umfangreiche Informationen zum Ort bereit hält. Auch der Audioloop, der am 20. und 21. Januar aus der Ruine heraustönte, setzt sich mit dem Alten Leipziger Bahnhof als Ausgangsort der Deportation und Vernichtung auseinander. Es handelt sich um den Track Nr. 11 „Deportation und Vernichtung – Ereignis ohne Zeugnis? Güterbahnhof Dresden-Neustadt“. Er ist Teil eines Audio-Stadtrundganges mit dem Titel: „audioscript – Zur Verfolgung und Vernichtung der Jüdinnen und Juden in Dresden 1933 – 1945“, welchen das Autor:innenkollektiv audioscript seit 2008 auf seiner Website bzw. seit 2019 über eine App anbietet.
Es fehlt in Dresden nicht nur ein Ort der Erinnerung an die Opfer der Shoah, sondern auch ein Ort der Information und Dokumentation. Es gibt in der Stadt, die viel zu lange mit ihrer vermeintlichen Opferrolle befasst war, keinen Ort, an dem sich umfassend mit der nationalsozialistischen Geschichte auseinandergesetzt werden kann, wo Wissen über die zahlreichen Opfergruppen vermittelt wird, die von Verfolgung und Vernichtung betroffen waren, über Menschen im Widerstand, aber auch über die Täter:innen. Bisher wurde das Wissen darum maßgeblich von ehrenamtlich arbeitenden erinnerungspolitischen Akteur:innen zusammengetragen, beispielhaft seien die Gedenkplätze, die Denkzeichen und der Mahngang Täterspuren genannt.
Veröffentlicht am 23. Januar 2022 um 18:44 Uhr von Redaktion in Antifa