Es interessiert hier niemanden, wenn Nazis ihre Gesinnung offen zur Schau stellen – Interview mit dem „Jungen Netzwerk Freiberg“
30. Dezember 2021 - 20:20 Uhr
Seit mehreren Monaten demonstrieren in der erzgebirgischen Stadt Freiberg regelmäßig hunderte Menschen gegen die Corona-Maßnahmen. Mit dabei auch immer wieder Nazis, Reichsbürger:innen und die AfD. Wir wollten von den Aktivist:innen des Jungen Netzwerkes Freiberg wissen, wie sich die Situation in der Stadt darstellt, wer von den Protesten profitiert und welche alternativen Strukturen in der Stadt aktiv sind.
Hallo liebes junges Netzwerk. Wollt ihr euch unseren Leser:innen vorstellen. Wer seid ihr und was macht ihr?
Wir sind eine Gruppe von jungen Menschen mit dem Ziel, Freiberg emanzipatorisch zu gestalten, alternative Subkulturen zu fördern und Jugendliche zu politisieren. Das Spektrum unseres Netzwerks reicht von sich politisch links einordnenden Menschen bis in die politische Mitte. Unsere Aktivitäten beziehen sich hauptsächlich auf Kulturveranstaltungen wie Konzerte, Filmvorführungen und Lesungen sowie auf kritische Begleitung des Geschehens in der Umgebung. Einen weiteren Schwerpunkt bilden Demonstrationen.
Unser Wirkungsraum bezieht sich auf die Stadt und dessen Umgebung. Dabei arbeiten wir bislang sachsenweit mit anderen Trägern, Vereinen, Institutionen, Bündnissen und Initiativen zusammen, welche unsere Grundwerte teilen. Wir verstehen uns überparteilich und konfessionell ungebunden. Dabei teilen wir ein antirassistisches, antisexistisches, antifaschistisches, feministisches und LGBT- und FLINTA-solidarisches Grundverständnis in unserem politischen Handeln.
Könnt ihr kurz vorstellen, um was für eine Stadt es sich bei Freiberg handelt? Wer sind die lokalpolitischen Akteure?
Freiberg ist eine Stadt mit ungefähr 39.000 Einwohner*innen. Politisch ist sie sehr konservativ bis rechts-reaktionär, aber trotz allem als international und universitär mitgeprägte Stadt etwas liberaler eingestellt als das ländliche Umland. Vor Ort versucht die CDU teilweise die AfD rechts zu überholen.
Primär spielt sich viel im parteipolitischen Handeln ab. Unabhängige Gruppen, wie unsere, finden sich kaum. An dieser Stelle sei noch „Freiberg für Alle“ als breites Bürgibündnis erwähnt, welches ebenso versucht, mit anderen Mitteln progressive Ansätze in Freiberg zu verankern.
Seit mehreren Wochen macht Freiberg bundesweit durch Corona-Proteste von sich reden. Könnt ihr einen Abriss darüber geben, wie sich die Aktivitäten in den letzten Monaten entwickelt haben?
Schwankend. Ein „harter Kern“ von einigen dutzend Leuten demonstriert seit über anderthalb Jahren jeden Montag. Dazu gesellten sich im Sommer nur eine Handvoll weiterer Personen, seit die Inzidenzen wieder steigen und die Schutzmaßnahmen verschärft wurden, sind es einige hundert „Spaziergänger:innen“. Da sich Freiberg Ende November als bundesweites Zentrum der Coronaproteste herauskristallisierte, wurde u.a. durch das Compact-Magazin auch aus ganz Deutschland hierher mobilisiert. In den letzten Wochen sind, wohl durch das Erstarken der Proteste auch an anderen Orten und den medial begleiteten Widerstand, die Teilnahmezahlen wieder auf wenige Hundert zurückgegangen.
Der „harte Kern“ kommt aus Freiberg und ist nach unseren Beobachtungen einem verschwörungserzählenden, bzw. Reichsbürger:innenmilieu zuzuordnen. In diesem Zusammenhang darf nicht die Tatsache außer Acht gelassen werden, dass auch zum harten Kern diverse bürgerliche Personen gehören, welche oft auch Verbindungen in die lokale AfD haben. Tatsächlich bekannte und organisierte extrem rechte Personen, wie vom Dritten Weg, der NPD oder auch Pro Chemnitz kamen in den letzten Wochen meist von außerhalb angereist. Trotzdem muss an dieser Stelle erwähnt werden, dass sich auch immer wieder stadtbekannte unorganisierte Neonazis unter die unangemeldeten Demonstranten gemischt haben.
Wie würdet ihr das Verhältnis von Stadtbewohner:innen und Personen von außerhalb bei den Protesten einschätzen? Insbesondere die Freien Sachen mobilisieren ja fleißig zu den Demonstrationen.
Unterschiedlich. Mitunter findet sich überregionale Naziprominenz (von Martin Kohlmann und Michael Brück aus Chemnitz bis zu Jürgen Elsässer) und dann auch etliche angereiste Nazis ein, sowohl Kern als auch die Masse der Mobilisierenden kommen allerdings aus dieser Stadt und Region.
Um es zu präzisieren: organisierte extreme Rechte kommen tendenziell angereist, während der Orga-Kern und der größere Teil der Menschen aus der Stadt oder dem Umland kommen.
Wie nehmt ihr gerade die Situation in der Stadt war, auch außerhalb der montäglichen Demonstrationen?
Es wird eine seit längerer Zeit schwelende Grundstimmung in der Bevölkerung sichtbar, die Anlässe wie den Zuzug von geflüchteten Menschen 2015 oder die Pandemie zur Zeit zum Anlass nimmt, ihren Chauvinismus offen zu zeigen. Auch wenn die Lage nicht mehr so krass ist wie in den 1990ern – Beleidigungen, Bedrohungen und Angriffe von Neonazis gibt es hier seit drei Jahrzehnten.
In der Regel wird das totgeschwiegen oder es ist allgemein von unpolitischer Jugendgewalt die Rede. Als in den 1990ern reihenweise linke und anders aussehende Menschen angegriffen wurden, war beispielsweise bei Angriffen auf linke Jugendliche in der Regel von „Gewalt zwischen Linken und Rechten“ die Rede. Angeblich wären beide Seiten irgendwie schuld daran und den Betroffenen von Naziübergriffen wurde quasi eine Mitschuld daran gegeben dass sie beleidigt, bedroht oder zusammengeschlagen wurden.
Auch wenn es dabei nicht ausgesprochen wird, die „Mitschuld“ von Betroffenen besteht in diesem Fall – auch heute – darin, dass sie sichtbar sind. Nicht wenige Menschen in dieser Stadt stören sich weniger an Übergriffen von Neonazis sondern eher daran, dass migrantisch gelesene Personen, Lesben, Schwule oder Punks sichtbar durch die Stadt laufen und dabei die Frechheit besitzen, auch noch gutgelaunt zu sein. Genau das Klientel, welches sich daran stört, dass auch andere als sie selbst an dieser Gesellschaft teilhaben möchten, bildet einen nicht unerheblichen Teil der „Spaziergänger“!
Auf der anderen Seite muss erwähnt werden, dass es zu jeder Zeit aktiven Widerstand gegen eben genannte Zustände gab. Eine neue Dynamik beginnt in 2015 mit dem Auftreten der Gruppe „Rotkäppchen Freiberg„, welche mittlerweile ebenso Teil des Jungen Netzwerk Freiberg ist. Unsere Initiative, wie auch andere kleine Subkulturen oder breite Bündnisse sind heute eine aktiver Gegenpol und begleitet gesellschaftliche Prozesse hier kritisch. Dies hat zu Folge, dass sich mittlerweile mehr Menschen ermutigt fühlen hier aktiv etwas in einem humanistisch progressiven Sinn zu unternehmen.
Freiberg hat ja schon seit längerer Zeit eine aktive Naziszene. Was für Akteur:innen spielen eine Rolle? Und wie ist eure Beobachtung, konnten Neonazis bisher Profit aus den Protesten ziehen?
Es gibt unterschiedliche Spektren von Neonazis in der Region Freiberg. Da sind zum einen die alten NPD-Zusammenhänge aus den 90ern. Sie sind in die Jahre gekommen, nicht mehr ganz taufrisch, personell dezimiert, aber immer noch vorhanden. Der Dritte Weg ist auch aktiv. Viele hatten die gar nicht so auf dem Schirm, bis irgendwer diesen Bericht auf Indymedia.org veröffentlichte. Erst kürzlich mussten wir erfahren, dass in Mittelsachsen derzeit viele Immobilien im Besitz dieses Umfelds sind. Da kommt mit Sicherheit noch eine Menge auf uns zu! Deren Kader sind ebenfalls auf den sogenannten „Montagsspaziergängen“ zu finden.
Des weiteren gibt es hier seit den 1990ern eine breite unorganisierte Naziszene. Diese sind im Vergleich zu den #Baseballschlägerjahren zwar ruhiger geworden, aber ein gewisses Gewaltpotential geht immer noch von diesen Personen aus. Die meisten kümmern sich inzwischen um Familie und Kinder, ihre Standpunkte haben sie behalten. Von den übrigen haben die meisten wohl eher mit Saufen zu tun, ein kleiner Teil sicherlich auch mit Crystal und ein nicht gerade kleiner Part befindet sich heute im Umfeld der AfD. Diese behauptet zwar, sich von Neonazis zu distanzieren, aber an deren Werbetischen hörst du Kader von linker Gewalt schwadronieren, die Ende der 90er noch selbst versuchten, einen Punkerclub anzugreifen und die Besuchenden zusammenzuschlagen. Dass der örtliche AfD-Kreisvorsitzende Lars Kuppi vor der angeblichen Auflösung des Flügels dort als einer ihrer radikaleren Exponenten galt, sagt einiges über die Truppe aus. Dazu kommen die „Freien Sachsen“. Hier kommen nicht nur Nazikader unterschiedlicher Spektren zusammen, sondern es sammeln sich dort auch einige rechte Esoteriker:innen aus der Region.
In den 1990ern gab es z.B. zwischenzeitlich mit dem „Yggdrassil“ einen esoterisch-mittelalterlich angehauchten Szeneladen, dessen musikalisches Spektrum von unpolitischem Metal, paganischen Gesängen bis zur Naziband „Death in June“ reichte. Das Warenangebot umfasste neben unpolitischen Artikeln aus dem Gothikbereich über eine Grauzone hinaus bis zu nationalsozialistischen Angeboten. In dieser Szene tummeln sich auch etliche rechte Impfgegner:innen, wie z.B. der ehemalige NPD-Kreisrat Sandro Kempe. Dieser trat nach eigenen Angaben 2009 aus der NPD aus, bezeichnete sich eine zeitlang als „Frutarier“ und postete in sozialen Netzwerken bereits vor Corona seine Impfgegnerschaft. Er gehörte zu Beginn zu den Initiatoren der „Spaziergänge“.
All diese Personen bekommen jetzt Auftrieb. Zwar werden in letzter Zeit Stimmen laut, dass sich „Protestierer“ von den „Freien Sachsen“ vereinnahmt fühlen, doch bekommt Mensch während dieser „Spaziergänge“ einen anderen Eindruck. Dass nicht wenige Nazis mit schwarz-weiß-roten Mützen ihre Gesinnung offen zur Schau stellen, interessiert da niemanden. Wenn auf „Spaziergängen“ nationalisozialistische Parolen gerufen werden, hören einige weg, andere brüllen mit und der Rest signalisiert über sein Verhalten eine schweigende Zustimmung. Wenn deren Protagonisten später öffentlich behaupten, sie hätten davon nichts mitbekommen und nur ganz normale Leute gesehen, lässt das „offizielle Freiberg“ es ihnen durchgehen. Die Stadtverwaltung führt mit diesen Personen teilweise auch noch einen offenen Dialog und bietet so deren Gedankengut eine Bühne. Mit den Quarkdenkenden wird offen gezeigtes rechtes Gedankengut immer salonfähiger. Dass Oberbürgermeister Sven Krüger oder der Freiberger SPD-Politiker Alexander Geißler in der Vergangenheit „Verständnis“ für die „Sorgen und Nöte“ der Quarkdenkenden äußerten, macht die Sache nicht einfacher.
Dann gibt es noch die Hilfsorganisation „Freiberg zeigt Herz“. Als bekannt wurde, dass deren Gründer in der Vergangenheit mit Thor Steinar in sozialen Netzwerken posierte, musste er sich noch rechtfertigen, kam aber mit der Behauptung davon, ihm wäre die Bedeutung nicht bekannt gewesen. Es wird auch nicht weiter hinterfragt, dass es deren erklärtes Ziel ist, „Deutschen“ zu helfen und dabei Menschen ausgegrenzt werden die diesem Personenkreis nicht deutsch genug sind. Inzwischen trägt auf einem kürzlich veröffentlichtem Foto dieser Gruppierung einer der Protagonisten deutlich erkennbar ein Kleidungsstück mit schwarz-weiß-roter Symbolik. Daran stören sich weder die diese Organisation unterstützenden SPD-Politiker, noch für sie werbende Freiberger Kneipiers.
Im Sommer habt ihr eine Demonstration unter dem Motto „Schicht im Schacht – rechte Hegemonien durchbrechen“ gegen die Corona-Proteste organisiert. Was hat euch dazu bewogen, wie sieht eure inhaltliche Position dazu aus und wie wurde die Demonstration in der Stadt angenommen?
Bereits damals marschierten als „Spaziergänger“ gelabelte Demonstrant:innen durch Freiberg. Der Zulauf war zwar nicht so stark wie zur Zeit, aber bereits zu diesem Zeitpunkt kam der Großteil aus dem rechtsextremen und verschwörungstheoretischen Spektrum. Dem wollte wir etwas entgegensetzen und zeigen, dass diesen Menschen die Straße nicht allein gehört.
Uns war es mit dieser Demo also wichtig gegen die Vereinnahmung der „Coronaproteste“ durch die extreme Rechte zu protestieren und eine antifaschistische und antikapitalistische Antwort zu senden, die für solidarische Alternativen einsteht. Denn im Gegensatz zu Querdenker:innen, Verschwörungstheoretiker:innen, Antisemit:innen und Neonazis ist unsere Kritik fundamental und durch Fakten gestützt. Statt eine notwendige Kritik am staatlichen Pandemie-Management zu formulieren, wird die Tragweite der Pandemie von diesen Menschen meist völlig missachtet oder die Existenz des Virus verleugnet.
Wen die Krise am härtesten trifft, ist kein Zufall: Es sind diejenigen, die auch im Status quo tendenziell unterdrückt und diskriminiert werden. Einen Beitrag dazu leisten staatliche Corona-Maßnahmen, welche die Verantwortung der Pandemiebekämpfung zu einem Großteil ins Private verschieben. Eine Maßnahme darunter, ist beispielsweise die zurzeit teilweise geltende Ausgangsbeschränkung. Vor allem für Frauen und queere Menschen ist das Zuhause, in das Personen durch staatliche Maßnahmen zurückgedrängt werden, kein sicherer Ort. Somit steigen seit Pandemiebeginn offiziell die Fallzahlen häuslicher Gewalt, Institutionen berichten von vermehrten Kindeswohlgefährdungen.
Doch das Virus ist nicht nachts unterwegs und nicht nur im Privaten, sondern es geht tagsüber arbeiten. Infektionsherde finden sich ebenso in Produktionsstätten, am Fließband, in Schlachthäusern, in Logistikzentren oder in Großraumbüros. Alles soll stillstehen, nur nicht die Wirtschaft.
Über die Demo wurde danach auch in überregionalen Medien berichtet, was zur Folge hatte, dass auch in der Stadt darüber gesprochen wurde. Wir sind noch immer der Auffassung, dass die Demo ein Erfolg war, zugleich ist uns auch bewusst, dass wir mit dieser Demonstration nicht die ganze Stadtgesellschaft verändert haben. Jedoch haben wir aus unserer Perspektive in Abgrenzung zu anderen Initiativen oder der Jungen Union den wohl effektivsten Protest gegen die sogenannten Montagsspaziergänge durchgeführt und das mit klarer Haltung und ohne Ambiguität!
Welche Unterstützung wünscht ihr euch von Aktivist:innen aus anderen Städten?
Wir freuen uns immer, wenn Auswärtige unsere Demonstrationen verstärken. Doch wie wahrscheinlich jede emanzipatorische Provinzgruppierung sind wir regelmäßig knapp bei Kasse und freuen uns sehr über finanzielle Unterstützung. Politische Arbeit kostet eben auch Geld, z.B. um gute Referent:innen hier an den Arsch der Welt zu bekommen. Wir möchten mit inhaltlichen Veranstaltungen in diese Region hineinwirken, doch nur wenige Veranstaltungen sind allenfalls kostendeckend.
Um dem herrschenden reaktionären Konsens etwas entgegenzusetzen und unsere Ziel voranzubringen, werkeln wir momentan an einem etwas aufwändigeren Projekt. Mit Unterstützung von städtischen oder Kreisbehörden ist nicht zu rechnen – aus diesen Richtungen erwarten wir eher Steine auf unseren Wegen. Um nicht schlafende Hunde zu wecken, möchten wir noch nicht öffentlich mitteilen, worum es geht. Vorher schaffen wir Fakten. Das Ergebnis wird uns hoffentlich ermöglichen, emanzipatorische Strukturen zu verstetigen und zu professionalisieren, auf weiteren Ebenen zu agieren und noch besser in den öffentlichen Raum zu wirken. Ihr dürft gespannt sein!
Vielen dank für das Interview. Gibt es noch was ihr unseren Leser:innen mitteilen wollt?
Zuerst einmal möchten wir uns bei euch bedanken. Leider wurde unsere Perspektive von anderen Medienvertreter:innen in den letzten Wochen und Monaten viel zu selten beleuchtet, wobei wir eine ganze Menge dazu sagen könnten. Deshalb ist eure Arbeit sehr wichtig und bereichert unsere, wie auch sicher die Perspektiven vieler anderer Menschen.
Abschließen möchten wir mit einem Aufruf an andere Einzelpersonen, Gruppen und Initiativen gern mit uns über die üblichen Social Media Kanäle oder auch per Mail in Verbindung zu treten. Wir sind immer am Ideen- und Erfahrungsaustausch interessiert, um neue Wege oder Strategien kennenzulernen oder um sich auch einfach zu vernetzen. Damit bedanken wir uns für das Interview und den Leser:innen für deren Interesse! Bleibt Gesund, solidarisch und aktiv im kommenden Jahr!
Vielen Dank nochmal und euch einen aktivistischen Start ins neue Jahr.
Bildquelle: Protestfotografie Dresden
Veröffentlicht am 30. Dezember 2021 um 20:20 Uhr von Redaktion in Antifa, Freiräume