Antifa

Antifaschistische Erinnerungskultur auf der Straße: Gedenkrundgang am 27. Januar

3. Februar 2023 - 16:01 Uhr - 2 Ergänzungen

Für den 27. Januar, dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, hatten Dresdner antifaschistische Initiativen zu einem Gedenkrundgang eingeladen. An diesem Tag vor 78 Jahren hatten Soldaten der Roten Armee das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau befreit. Der Rundgang führte von der Neuen Synagoge über das Terrassenufer, die Augustusbrücke und die Hauptstraße zum Bahnhof Neustadt. 

An der Neuen Synagoge bildete ein Redebeitrag von Johanna Stoll von der Jüdischen Gemeinde zu Dresden den Auftakt. Sie erinnerte an Menschen, die Widerstand leisteten gegen die nationalsozialistische Verfolgungs- und Vernichtungspolitik und nannte dabei Edith Wolff und Jizchak Schwersenz, die in Berlin die zionistische Jugenduntergrundgruppe Chug Chaluzi gründeten. Die Gruppe versteckte jüdische Kinder, Jugendliche sowie andere politische Verfolgte und organisierte Lebensmittel und gefälschte Ausweise. Sie erinnerte auch an Horst-Siegfried Weigmann aus Dresden, der im Januar 1944 versuchte seine Mutter aus der Gestapohaft zu befreien und dafür mit seinem Leben zahlte. Johanna Stoll betonte die Bedeutung des Erinnerns für die Gegenwart und Zukunft – für eine Gesellschaft, in der sich jeder Mensch „willkommen und zugehörig fühlen kann“. 

Auf dem Weg über das Terrassenufer war der Track „Auschwitz auf der Straße – Todesmärsche in Dresden“ des audioscripts zu hören. Darin wird das öffentliche Sterben von Häftlingen aus evakuierten KZs während der Todesmärsche thematisiert. Vor den anrückenden Alliierten räumten die NationalsozialistInnen die Lager und zwangen mehr als 700.000 Menschen auf tage- und wochenlang dauernde Märsche bzw. Transporte. Bereits geschwächt von den Lagerbedingungen überlebte eine große Zahl der Häftlinge diese Tortour nicht. Sie erfroren, verhungerten oder brachen geschwächt zusammen und wurden dann von den SS-Wachmannschaften erschossen. Teil des abgespielten Tracks waren außerdem Selbstzeugnisse von Menschen, die  während der letzten Kriegsmonate auf Todesmärschen durch Dresden eskortiert wurden und dabei auch die alliierten Luftangriffe erlebten.

In einem Redebeitrag der LAG Queeres Netzwerk Sachsen erinnerte ein Vertreter der Landesarbeitsgemeinschaft an die Verfolgung von queeren Menschen im Nationalsozialismus. Hierfür gründeten die NationalsozialistInnen 1936 eigens die Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung. Die Strafverfolgungsbehörde leitete etwa 100.000 Ermittlungsverfahren ein, 10.000 bis 15.000 Männer wurden in Konzentrationslager deportiert, etwa 50.000 zu Freiheitsstrafen verurteilt. Weibliche Homosexualität wurde offiziell nicht strafrechtlich verfolgt. Dennoch waren lesbische Frauen ebenso wie trans Personen in Gefahr. Sie wurden oft unter anderen Vorwänden oder unter anderen Kategorien verhaftet bzw. in Konzentrationslager deportiert. Im Beitrag wurde zudem an die fortgesetzte Verfolgung queerer Menschen nach 1945 erinnert und dazu aufgerufen angesichts der gegenwärtig zunehmenden Queerfeindlichkeit weiter „für ein selbstbestimmtes Leben ohne Angst vor Gewalt, Diskriminierung oder Verurteilungen zu streiten.“

Auf dem Neustädter Markt folgte eine Redebeitrag von Renata Horvathova von RomaRespekt und Maria Ulrich von der Gruppe gegen Antiromaismus. Sie erinnerten an Čenek Růžižka, dessen Eltern Alzbeta und Jan Růžižka die Konzentrationslager Auschwitz, Mittelbau Dora und Lety u Písku (Tschechische Republik) überlebten, und der vor kurzem verstorben ist. Über 20 Jahre kämpfte Čenek Růžižka für die Errichtung einer Gedenkstätte auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslager Lety u Písku zur Erinnerung an die dort inhaftierten und ermordeten Rom:nja und Sint:ezze. Dank der beharrlichen Kämpfe wurde die auf dem Gelände nach 1945 errichtete Schweinemastanlage im vergangenen Jahr abgerissen. Auf dem Gelände sollen nun eine Gedenkstätte und ein Museum entstehen. 

Renata Horvathova und Maria Ulrich prangerten außerdem die fortwährende Entrechtung, Diskriminierung und den Rassismus gegen Rom:nja und Sint:ezze an. Dazu gehören beispielsweise Abschiebungen von oftmals schon Jahrzehnte in Deutschland lebenden Romn:ja in die Staaten des Westbalkan, die zu „sicheren Herkunftsstaaten“ deklariert wurden. Als im Frühjahr 2022 ukrainische Rom:nja auf ihrer Flucht über Prag nach Dresden einreisen wollten, seien sie am Dresdner Hauptbahnhof von der Bundespolizei daran gehindert worden, aus dem Zug auszusteigen. Obwohl diese Rom:nja mit hoher Wahrscheinlichkeit Nachfahren von Überlebenden des Porajmos seien, habe dieses Vorgehen der Polizeikräfte kaum für Aufmerksamkeit geschweige denn Aufsehen gesorgt.

Im Anschluss führte der Gedenkweg, während ein weiterer Track des audioscriptes abgespielt wurde – „Deportation und Vernichtung – Ereignis ohne Zeugnis? Güterbahnhof Dresden-Neustadt“ – über die Hauptstraße zum Bahnhof Neustadt. Vom benachbarten Alten Leipziger Bahnhof bzw. Güterbahnhof Dresden-Neustadt wurden zwischen 1942 und 1944 hunderte Juden:Jüdinnen aus Dresden nach Auschwitz in den Tod deportiert.

Auf dem Bahnhofsvorplatz sprach Rabbiner Akiva Weingarten zu den Teilnehmer:innen des Gedenkweges. Seine Großmutter überlebte die Konzentrationslager Auschwitz, Theresienstadt und Bergen-Belsen. In seiner Familie habe es daher keinen speziellen Tag der Erinnerung gebraucht – die Erinnerung sei alltäglich gewesen. Weingarten betonte die Bedeutung der Erinnerung für eine sichere und bessere Zukunft für alle. 

Zum Abschluss sprach Silvio Lang, Sprecher der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten Sachsen (VVN BdA). Er kritisierte die fehlgeleitete Erinnerungspolitik in Sachsen am Beispiel des im Oktober 2022 vorgenommenen stark umstrittenen Abrisses der Kommandanten-Villa des ehemaligen KZ Sachsenburg durch die Stadt Frankenberg. Das KZ Sachsenburg war eines der frühen nationalsozialistischen Konzentrationslager, in denen vor allem politische Gegner:innen der NationalsozialistInnen inhaftiert waren. Für die auf dem Gelände geplante Gedenkstätte wäre der Erhalt der Kommandantenvilla als Ort der Täter:innenschaft wichtig gewesen. 

Silvio Lang erinnerte außerdem an Willy Blum, einen Sinto-Jungen, der mit 16 Jahren in Auschwitz ermordet wurde. Willy Blum wuchs in einer Marionettenspielerfamilie auf, die kurzzeitig auch in Dresden-Laubegast lebte. 1938 zog die Familie nach Hoyerswerda, weil sie dort das Schausteller-Gewerbe noch bis zum Jahr 1942 ausüben konnten. Im März 1943 erfolgt die Deportation der Blums nach Auschwitz. Am 3. August 1944, kommen Willy und sein zehnjähriger Bruder Rudolf nach Buchenwald. Ende September soll Rudolf zurück nach Auschwitz und damit in den sicheren Tod deportiert werden. Willy entscheidet sich, mit seinem Bruder zu gehen und meldet sich „freiwillig“ für den Transport, für den ursprünglich Stefan Jerzy Zweig, auch bekannt als „Buchenwaldkind“, aus Bruno Apitz‘ Roman „Nackt unter Wölfen“ vorgesehen war. Die beiden Brüder Willy und Rudolf wurden vermutlich kurz nach ihrer Ankunft in Auschwitz ermordet.

Die Gedenkveranstaltung endete mit dem Niederlegen von Blumen und Aufstellen von Kerzen an der Gedenktafel an der Bahnhofsvorderseite.

Anlässlich des 27. Januars veröffentlichte RomaRespekt bei weiterdenken – der Heinrich-Böll-Stiftung in Sachsen den Audiowalk „Spurensuche zur Verfolgung und Vernichtung der Rom:nja und Sint:ezze während des Nationalsozialismus in Dresden und die Diskriminierung bis heute“. Für die sechs Hörstationen hat sich Roma Respekt auf die Suche nach Spuren der rassistischen, nationalsozialistischen Verfolgungspolitik gegenüber Rom:nja und Sint:ezze in Dresden gemacht. Eine Hörstation ist dem Leben von Willy Blum gewidmet. Weitere Hörstationen thematisieren das Leben und Leiden des Musikers Brüno Rose und seines Sohnes Harry Rose und die Verfolgungsgeschichte des sinto-deutschen Boxers Johann Wilhelm „Rukeli“ Trollmann. Weitere Themen sind Zwangssterilisationen an Rom:nja und Sint:ezze im Städtischen Krankenhaus Dresden-Friedrichstadt sowie die Biographie der in Dresden geborenen Eva Justin, die unter dem nationalsozialistischen „Rassentheoretiker“ Robert Ritter im Reichsgesundheitsministerium arbeitete. Sie nahm Untersuchungen an Rom:nja und Sint:ezze vor und legte damit die Grundlage für deren Deportation nach Auschwitz und anschließenden Ermordung.

Der Audiowalk wurde unter folgendem Link veröffentlicht: https://www.weiterdenken.de/de/spurensuche


Veröffentlicht am 3. Februar 2023 um 16:01 Uhr von Redaktion in Antifa

Ergänzungen

  • Endlich wurden allen Opfern des NS mit gedacht – ein gutes Zusammen das beispielhaft werden sollte. Danke!

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