Antifa Ost Verfahren am Ende: Zweiter Teil
31. März 2023 - 20:00 Uhr - 2 Ergänzungen
Nach über 90 Verhandlungstagen wird das sogenannte Antifa Ost Verfahren vor dem Oberlandesgericht (OLG) in Dresden voraussichtlich im Mai zu Ende gehen. Ein konkreter Termin für den Urteilsspruch ist noch nicht terminiert worden. Addn wird die letzten Gerichtstermine begleiten. Dafür sollen in diesem zweiteiligen Artikel noch einmal die verschiedenen Vorwürfe und der Verfahrensstand aufgearbeitet werden.
Tatkomplex Diebstahl und „Eisenach II“
Am 13. Dezember 2019 wurde Lina im Leipziger Baumarkt durch einen Ladendetektiv gestellt, als sie versuchte, zwei Hämmer zu klauen. Dabei soll es sich um den Versuch, Tatwerkzeuge zu beschaffen, handeln, die am Tag darauf Verwendung finden sollten. In der Nacht vom 14. auf den 15. Dezember wurde in Eisenach erneut Leon Ringl von mehreren Personen, diesmal vor seiner Haustür, angegriffen. Ringl verteidigte sich mit einem Messer und blieb unverletzt, während drei Freunde von ihm in ihrem Auto attackiert und verletzt wurden. Mindestens zwei der drei Begleiter von Ringl sind Teil der Eisenacher Neonazi-Strukturen. Der dritte behauptete, politisch nicht aktiv zu sein, hat aber langjährige Kontakte zu rechten Akteuren und folgt ihnen teilweise auf einer Social-Media-Plattform.
Im Weiteren Verlauf des Abends wurden mehrere Personen, darunter zwei der in Dresden angeklagten, von der Polizei gestellt und verhaftet. Die anderen Verhafteten bekamen jüngst Strafbefehle des Landgerichts Meiningen zugesandt, da sie für diese konkrete Tat angeklagt werden sollen.
Hauptbelastungszeuge in diesem Komplex ist der bereits verurteilte Johannes Domhöver. Der Mann hatte, nachdem er durch mehrere ehemalige Beziehungspersonen der sexualisierten Gewalt beschuldigt wurde, begonnen mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz und dem LKA zu kooperieren. Nach seiner Aussage seien zwei der Angeklagten und weitere Beschuldigte an dem Angriff beteiligt gewesen. Er selbst hätte eine Spähfunktion ausgefüllt. Die Polizei war mittels Blitzerfotos, sowohl auf dem Weg nach Eisenach als auch auf dem Rückweg, auf ihn aufmerksam geworden. Domhöver wurde mittlerweile wegen gefährlicher Körperverletzung zu anderthalb Jahren Gefängnis, ausgesetzt zu vier Jahren Bewährung, verurteilt.
Tatkomplex „Wurzen“
Am 15. Februar 2020 besuchte eine Clique Wurzener Neonazis den Trauermarsch zur Bombardierung Dresdens. Auf dem Heimweg wurden sie von Maskierten am Bahnhof Wurzen überfallen. Auch diese Tat legt die Anklage der kriminellen Vereinigung zur Last. Außerdem gibt es ein gesondertes Ermittlungsverfahren gegen mindestens fünf Beschuldigte, wegen eines Blitzerfotos in der Nacht der Tat. Bisher wurden aber viele der polizeilichen Maßnahmen gegen diese gerichtlich als rechtswidrig eingestuft.
In einer umfangreichen Auswertung der Kameraaufnahmen aus dem Regionalexpress 50, mit dem die angegriffenen Neonazis von Dresden nach Wurzen gefahren waren, fand die Polizei zwei ihr verdächtige Personen. Einmal handelt es sich um den Beschuldigten Johann G., der sich seit zwei Jahren dem polizeilichen Zugriff entzieht. Die Anklage sieht in seinem Verhalten im Zug eine Ausspähungshandlung. Die Verteidigung hinterfragte diese Interpretation, da der Beschuldigte auf den Videos nicht wirkt, als würde er seine Identität verschleiern wollen, was bei einer Ausspähung zu erwarten wäre. In seiner Aussage sagte der Zeuge Domhöver, er sei als Scout für eine Aktion im Februar 2020 angefragt worden. Aus Zeitgründen sei er darauf aber nicht eingegangen.
Eine zweite Person geriet hingegen ins Visier des LKA, da sie ihre Identität zu verschleiern versuche. Über die gesamte Zugfahrt behält die Person, in der die Anklage Lina vermutet, ihre Mütze und Schal an. Auffällig sei hier außerdem, dass die Person häufig telefonierte. Bei der Auswertung der Funkzellen unterlief der Polizei jedoch ein Fehler. Die Funkzelle, in der die Person am Bahnhof Dresden telefonierte, konnte sie wegen eines Messfehlers nicht erheben, so dass ihr diese Daten fehlen.
Von den Angreifer:innen am Bahnhof Wurzen gibt es nur ein kurzes Video, dass durch eine Überwachungskamera aufgenommen wurde. Es zeigt aber lediglich vermummte Personen und Schatten. Bei ihren Ermittlungen stieß die Soko LinX außerdem auf ein Chatgespräch, welches auf dem Smartphone eines Beschuldigten über den Client Pidgin geführt wurde. In diesem geht es laut Ermittlungsbehörden um eine Kameraaufnahme, wegen der die Gesprächspartner:innen überlegen, ob sie getragene Kleidung wegschmeißen müssten. Außerdem zieht die Anklage aus diesem Gespräch auch einen Hinweis auf einen weiteren der Angeklagten. Es müsse davon ausgegangen werden, dass er gemeint und dementsprechend an dem Überfall beteiligt gewesen sein müsse.
Zuletzt gibt es auch hier einen Hinweis aus den abgehörten Gesprächen im Fahrzeug eines Angeklagten. Dieser war am Morgen des 15. Februar 2020 in Leipzig und tauschte sich dort mit zwei Personen im Fahrzeug über die Bildung von Bezugsgruppen aus.
„Vorbereitungen auf einen Angriff“
Im Sommer 2020 standen zwei der Beschuldigten bereits unter scharfer Überwachung des LKA, die mit Observationsteams und Kameratechnik ihre Schritte verfolgten. Die Behörde vermutete damals, dass ein Angriff auf den Leipziger Neonazi Brian Engelmann vorbereitet werden würde. Als mehrere Personen, die als Beschuldigte geführt wurden, in Leipzig zusammen kamen, vermutete das LKA Sachsen, der Angriff stünde unmittelbar bevor und ordnete Hausdurchsuchungen und die Verhaftung von Lina an.
Das alles auch anders gewesen sein könnte, zeigten die Aussagen des Kronzeugen Johannes Domhöver. Auch er war an dem Juniwochenende nach Leipzig gereist, weshalb die Polizei auch gegen ihn vorging. Laut Domhöver war sein damaliger Besuch jedoch durch einen rein sportlichen Wettkampf unter Freunden motiviert. Ein entsprechendes Video eines Boxkampfes zwischen Domhöver und einem weiteren Beschuldigten liegt der Anklage vor.
Die kriminelle Vereinigung
Anders als in den bisherigen Tatkomplexen muss für die Mitgliedschaft oder Unterstützung einer kriminellen Vereinigung nicht zwangsläufig eine Straftat begangen worden sein. Allein der Zusammenschluss wird mit bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe bedroht. Besonders an dieser Stelle ist der Prozess komplex, denn eine genaue Beschreibung der Gründung, Kommunikation oder gemeinsamen Organisation lag der Anklage zu Beginn nicht vor. Der Kronzeuge Domhöver hat zumindest Grundzüge skizziert, wie die Angeklagten mit einander kommuniziert hätten.
Er beschrieb, dass es mehrere Personen gegeben habe, die unterschiedlich stark involviert gewesen seien. Er selbst sei beispielsweise, wie auch andere, nur zur Unterstützung angefragt worden. Andere hingegen seien aktiv zur Planung von Straftaten geschritten. Außerdem scheinen Senat und Anklage davon auszugehen, dass seine Aussagen belegen, dass die Vereinigung bereits im Jahr 2017 gegründet worden sei. Zumindest hätten gemeinsame Szenariotrainings zur Vorbereitung von Körperverletzungsdelikten wahrscheinlich seit 2017 stattgefunden. Doch dadurch, dass der Kronzeuge selbst nur zur zweiten Reihe gehört haben will, konnte er über andere Personen wenig aussagen. Teilweise kannte er wohl nicht einmal die Namen der Beteiligten.
Die Anklage steht und fällt allerdings mit dem Nachweis der kriminellen Vereinigung. Angenommen es gäbe sie nicht, fällt mit ihr auch die Beteiligung an Angriffen wie dem auf Enrico Böhm, den Kanalarbeiter oder die Kneipe „Bull’s Eye“. Denn hier besteht die Anklage vor allem auf der Annahme, dass eine kriminelle Vereinigung ein charakteristisches Vorgehen entwickelt habe. Nur deswegen wird dieser Vereinigung dann auch die entsprechende Tat zugeordnet. Sie stellt das Verbindungsglied zwischen den einzelnen noch Beschuldigten und den bereits Angeklagten dar. Es wäre das erste Mal, dass das sächsische LKA mit dem Schnüffelparagrafen 129 StGB erfolgreich gegen Antifaschist:innen vor Gericht gezogen wäre.
Beitragsbild: Symbolbild
Veröffentlicht am 31. März 2023 um 20:00 Uhr von Redaktion in Antifa, Nazis