Gedenken an die Novemberpogrome vor 85 Jahren
18. November 2023 - 18:00 Uhr
Anlässlich des 85. Jahrestages der Novemberpogrome fand in den Tagen rund um den 9. November 2023 eine Vielzahl von Veranstaltungen in Dresden statt. Den Anfang machte die sächsische Landesarbeitsgemeinschaft Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus (sLAG) am 2. November mit einem Vortrag „Die Feuerwehr stand dabei und sah zu“ im Zentralwerk. Der Historiker Daniel Ristau stellte die Ergebnisse seiner Forschungen zu den Novemberpogromen von 1938 in Sachsen vor. Mit Hilfe von Fotografien, Stadtplänen, Zeitungsberichten und Zeitzeug:innenberichten ist es ihm gelungen, den Ablauf der Ereignisse in Dresden, Chemnitz, Leipzig, Görlitz und anderen Orten zu rekonstruieren. Die Angriffe auf Juden:Jüdinnen fanden auch tagsüber statt, erstreckten sich teilweise bis zum 13. November und fanden vor aller Augen statt. Deshalb wird seit einiger Zeit der treffendere Begriff „Novemberpogrome“ statt dem der „Reichspogromnacht“ verwendet.
Reichsweit kamen 1500 Menschen während der Novemberpogrome und an ihren Folgen ums Leben. Sie waren erschlagen, niedergestochen, auf der Straße oder in Haft misshandelt und zu Tode geprügelt worden. Andere hatten sich aus Angst das Leben genommen. 191 Synagogen wurden in Brand gesteckt, weitere 1215 Synagogen und Betstuben sowie etwa 7500 Geschäfte und Wohnungen geplündert und zerstört, jüdische Friedhöfe und andere Einrichtungen der Gemeinden verwüstet. In den Tagen danach verhaftete die Gestapo etwa 30 000 jüdische Männer und verschleppte sie in die Konzentrationslager Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen. Hunderte wurden dort ermordet oder kamen zu Tode.
Das Gedenken an die Pogromwoche im November 1938 war vom Terrorangriff der radikalislamischen Hamas auf Israel überschattet. Die Terrororganisation war am 7. Oktober vom Gazastreifen in den südlichen Teil Israels eingedrungen und hatte mehrere Kibbuzim und feiernde Menschen auf dem Musikfestival Supernova überfallen, 1200 Zivilist:innen gefoltert, vergewaltigt, erschlagen, erschossen, bei lebendigem Leib verbrannt und ihre unfassbaren Grausamkeiten in Videos dokumentiert, die eine „genozidale Botschaft“ (Dan Diner) aussenden sollen. Das Massaker solle zudem die israelische Bevölkerung nicht nur an die Shoa erinnern, sondern Juden:Jüdinnen auf der ganzen Welt ihres Sicherheitsgefühls berauben. Vor diesem Hintergrund hatte das Bündnis gegen Antisemitismus Dresden und Ostsachsen die Dresdner Stadtgesellschaft zu einer regen Beteiligung am zentralen Gedenken aufgefordert. Das Bündnis zeigte sich „zutiefst erschüttert“ über den infolge des Terrors und der legitimen Selbstverteidigung Israels weltweit eskalierenden Antisemitismus und forderte dazu auf, sich mit den angegriffenen Juden:Jüdinnen solidarisch zu zeigen.
Am Hasenberg versammelten sich um 15:30 Uhr etwa 250 Menschen. Der Platz war durch umfangreiche Schutzmaßnahmen wie z. B. technische Sperren an allen Zufahrten abgesichert. Die Gedenkveranstaltung wurde durch den Synagogenchor der Jüdischen Gemeinde zu Dresden eröffnet. Es folgten abwechselnd Ansprachen und Gebete, das El mole Rachamim und das Kaddisch-Gebet durch Kantor Elija Schwarz und das Mincha-Gebet durch Moshe Barnett. Es sprachen die Vertreter:innen der drei Dresdner jüdischen Gemeinden, Ekaterina Kulakova, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Dresden, Uwe Kuhnt von der Orthodoxen Jüdischen Gemeinde Chabad Lubawitsch Sachsen e. V. und Akiva Weingarten, Rabbiner der Jüdischen Kultusgemeinde Dresden. In ihren Ansprachen spielte die Sorge um die Sicherheit von Juden:Jüdinnen und die Angst vor antisemitischer Hetze und Gewalt neben dem Gedenken an die Opfer der Novemberpogrome eine wichtige Rolle. Sie alle riefen dazu auf, Antisemitismus in all seinen Formen zu bekämpfen. Die Veranstaltung endete mit der Niederlegung von Kränzen und Blumen. Dass die Jüdische Gemeinde zu Dresden bereits seit mehreren Jahren darauf hinweist, keinen Kranz der AfD an der Stele sehen zu wollen, hinderte die rechtsextreme Partei erneut nicht daran, ein Gebinde abzulegen. Teilnehmer:innen der Gedenkveranstaltung schafften daher den Kranz beiseite, wogegen die AfD-Fraktion bei der Polizei Anzeige erstattete.
Auf dem Theaterplatz zeigte das Bündnis gegen Antisemitismus Dresden und Ostsachsen zusammen mit der Initiative Dresdner Kultureinrichtungen Weltoffenes Dresden (WOD) und und dem Landesverband Sachsen der Jüdischen Gemeinden eine temporäre Installation. Sie bestand aus 250 leeren Stühlen mit den Fotos der aus Israel in den Gazastreifen entführten und seit über vier Wochen von den Terroristen der Hamas gefangen gehaltenen Menschen. Die Aktion knüpfte an die Kampagne „Kidnapped From Israel“ an, die sich zum Ziel gesetzt hat, größtmögliche Aufmerksamkeit auf das Schicksal der Geiseln zu richten und den Druck zur schnellstmöglichen Freilassung zu erhöhen.
Plakate mit den Bildern der Geiseln waren bereits Tage vorher unter der Bahnbrücke über die Lößnitzstraße am Rande der Dresdner Neustadt verklebt worden.
Gedenkrundgang in Pieschen
Mit ca. 80 Teilnehmer:innen startete um 18 Uhr ein Gedenkrundgang durch den Stadtteil Pieschen, der vom Internationalistischen Zentrum und einer neu gegründeten Initiative, die sich mit emanzipatorischer Stadtteilarbeit in Pieschen befasst, organisiert worden war. An den Wohnadressen von Juden:Jüdinnen sowie von politischen Gegner:innen des Nationalsozialismus stellten die Teilnehmer:innen Kerzen auf und legten Blumen ab.
Der Rundgang begann an der Oschatzer Straße 15. Im Eckhaus am Konkordienplatz haben Frieda Fanger, Selma Lotte Auerbach und Moritz Moshe Auerbach gelebt und gearbeitet. Bis zur „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ vom 12. November 1938 betrieben sie hier das Kaufhaus Fanger. 1941 wurden sie gezwungen, in das sogenannte Judenhaus in der Bautzner Straße 20 zu ziehen. Selma und Moritz Auerbach mussten Zwangsarbeit im Goehle-Werk leisten. Am 23./24. November 1942 wurden sie in das „Judenlager Hellerberg“ deportiert. Nach Auflösung dieses Lagers am 2./3. März 1943 wurden sie in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz verbracht, wo sie ermordet wurden. Frieda Fanger starb 1943 in Theresienstadt. Die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Dresden e. V. erinnert mit einem Denkzeichen an das Kaufhaus und die Familie Fanger/Auerbach.
Ein Vertreter des Bündnisses gegen Antisemitismus in Dresden und Ostsachsen gab an der zweiten Station, am Markusplatz, in seinem Redebeitrag einen Überblick über die Kontinuitäten des Antisemitismus nach 1945 in der DDR. Diese reichten von den antisemitischen Schauprozessen der 1950er Jahre über die staatliche israelfeindliche Propaganda bis zur neonazistischen Gewalt von Jugendlichen ab den 1960er Jahren und finden in der Gegenwart ihre Fortsetzung in der neonazistischen Rede vom „Bombenholocaust“, der Verharmlosung der Shoa bei Anti-Corona-Protesten und in Angriffen auf Teilnehmer:innen israelsolidarischer Kundgebungen.
An der dritten Station, in der Mohnstraße 29, wurde an Ernst Zucker erinnert. Von ihm ist nicht viel mehr bekannt, als dass er in diesem Haus lebte und dort eine Weinhandlung betrieb. Am 30. November 1941 wurde er mit 1005 weiteren Menschen von Prag in das Ghetto Theresienstadt und vier Monate später in das Ghetto Izbica deportiert.
Vor dem Hausprojekt RM16, in der Robert-Matzke-Straße 16, erinnerte eine Bewohnerin des Hauses an Selma und Robert Matzke, die als Antifaschist:innen Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Dresden leisteten. Sie waren beide in der kommunistischen Partei aktiv, er darüber hinaus in der Roten Hilfe und ab 1937 in der Kurt-Schlosser-Widerstandsgruppe. Diese flog im Dezember 1943 auf. Am 3. Dezember 1943 wurde Robert Matzke verhaftet und ins Polizeipräsidium verbracht. Selma Matzke bekam noch am selben Abend die Nachricht seines Todes, dessen Ursache nie festgestellt werden konnte. Sie bestach eine Aufseherin der Leichenhalle, um den Leichnam ihres Mannes zu sehen. Er wies zahlreiche Hämatome auf. Selma vermutete daher, dass ihr Mann von der Gestapo auf der Schießgasse zu Tode geprügelt worden sei.
Vor dem Haus Riesaer Straße 40 befinden sich drei Stolpersteine für Georg Friedrich Schweizer, Louise Martha Schweizer und ihren Sohn Ludwig Alexander Schweizer. Friedrich Schweizer wurde als SPD-Stadtverordneter im März 1933 festgenommen und ein Jahr lang im sogenannten Frühen Konzentrationslager auf der Burg Hohnstein in der Sächsischen Schweiz inhaftiert. Infolge der Folter verlor er seine Zähne und erblindete auf einem Auge. Der Sohn Ludwig Alexander, 1901 mit einer Behinderung geboren, wurde 1935 zwangssterilisiert und 1941 im Zuge der sogenannten Aktion T4 in Pirna-Sonnenstein ermordet.
Am Trachenberger Platz erinnerten die Teilnehmer:innen an Rosa Steinhart und Walter Steinhart, die in der Trachenberger Straße 23 gelebt haben. Walter Steinhart betrieb im gleichen Haus ein Geschäft für Haus- und Küchengeräte. Auch Rosa und Walter mussten in das sogenannte Judenhaus Bautzner Straße 20 ziehen. Ab dem 23./24. November 1942 waren sie im „Judenlager Hellerberg“ interniert. Am Abend des 2. März wurden sie vom Alten Leipziger Bahnhof in Dresden nach Auschwitz-Birkenau deportiert, wo sie beide, vermutlich unmittelbar nach der Ankunft, ermordet wurden.
Seit 2017 ist die Straße zwischen Moritzburger Straße und dem Konkordienplatz nach Rosa Steinhart benannt.
Auch Oskar Freudenfels lebte in der Trachenberger Straße 23. Er betrieb ein Herren- und Damenkonfektions- sowie Möbelgeschäft am Pirnaischen Platz. Sein Vermögen wurde Ende 1938 onfisziert. Im Herbst 1939 wurde Oskar Freudenfels verhaftet und an einen unbekannten Ort gebracht. Ende 1939 wurde er für tot erklärt.
Der Rundgang endete am Gebäudekomplex „Zentralwerk“ in der Riesaer Straße 32. Dort erinnerte eine Vertreterin der Kultur- und Wohngenossenschaft an Henny Brenner, die an diesem Ort im damaligen Goehlewerk der Zeiss Ikon AG im Alter von 16 Jahren Zwangsarbeit leisten musste. Seit Mai 2023 heißt der Große Saal im Zentralwerk nach Henny Brenner. In ihrem Buch „Das Lied ist aus“ hat Henny Brenner Zeugnis abgelegt über ihr Leben im nationalsozialistischen Dresden.
Lesung aus Victor Klemperers „LTI“ in der Synagoge Dresden-Neustadt
Um 19:30 Uhr war der Saal in der Synagoge Dresden-Neustadt brechend voll. Mehr als doppelt soviele Menschen wie erwartet, etwa 150, drängten sich auf den Fensterbänken, saßen auf dem Boden oder standen, um der Lesung aus Victor Klemperers „LTI“ zu folgen, zu der die Jüdische Kultusgemeinde und das Staatsschauspiel Dresden eingeladen hatten. Es lasen die Schauspieler:innen Karina Plachetka, Jakob Fließ und Oliver Simon. Jörg Bochow vom Staatsschauspiel Dresden eröffnete die Veranstaltung mit dem Hinweis auf die Historie des Alten Leipziger Bahnhofs. Von hier sind im Januar 1942 die Dresdner Juden:Jüdinnen in die Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert worden. Neben der Erinnerung an die Novemberprogrome 1938 wollte Jörg Bochow die Veranstaltung auch als ein Zeichen der Solidarität des Staatsschauspiels mit allen Jüdinnen und Juden sehen – erst recht nach dem brutalen Angriff der Hamas am 7. Oktober. Moshe Barnett, Vorstandsvorsitzender der Gemeinde und Rabbiner Akiva Weingarten begrüßten die Gäste ebenfalls und zeigten sich beeindruckt vom großen Interesse. „LTI – Notizbuch eines Philologen“ (lateinisch Lingua Tertii Imperii‚ Sprache des Dritten Reiches) erschien 1947. Victor Klemperer, dessen bevorstehende Deportation wie auch die von Henny Brenner durch die Luftangriffe im Februar 1945 abgewendet wurde, setzt sich darin mit der Sprache des Nationalsozialismus auseinander. Er beobachtete, dass weniger Reden und Flugblätter die Menschen beeinflusst haben als vielmehr die stereotype Wiederholung der immer gleichen, mit nationalsozialistischen Vorstellungen besetzten Begriffe. „Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung da.“, heißt das wohl bekannteste Zitat aus „LTI“.
Kritik an rechter Instrumentalisierung
Bereits im Vorfeld des 9. November hatte eine zweite geplante Lesung aus Victor Klemperers „LTI“, organisiert von der rechten Stadtratsfraktion der Freien Wähler, für Kritik gesorgt. Die rechte Buchhändlerin Susanne Dagen hatte neben Arnold Vaatz (CDU) und der ehemaligen Grünen-Politikerin Antje Hermenau auch den „völkisch-antisemitischen Jammer-Ossi“ Uwe Steimle zum Vorlesen eingeladen. Der machte mit Sprüchen wie „von der LTI zur Sprache des Grünen Reiches“ von sich reden und entlarvte damit die eigentliche Motivation hinter der Veranstaltung.
Gegen die Einmietung der Fraktion Freie Wähler in den Festsaal des Stadtmuseums ging die Kulturbürgermeisterin Annekatrin Klepsch vor, weil sie eine Verunglimpfung von Holocaust-Opfern fürchtete. Sie scheiterte aber am Bildungsbürgermeister und Ersten Bürgermeister Jan Donhauser, der die Kündigung der Räume wieder aufhob. Der Reclam-Verlag gab ebenfalls sein Einverständnis, sodass die Veranstaltung stattfinden konnte.
Unter dem Motto „Wir haben schon Victor Klemperer zitiert, da seid ihr noch mit Pegida um die Synagoge marschiert“ hatten sich am Abend vor dem Stadtmuseum etwa 50 Teilnehmer:innen einer Kundgebung eingefunden, um mit Transparenten und Redebeiträgen gegen die Instrumentalisierung des Werkes zu protestieren.
Die Auseinandersetzung im Vorfeld hatte auch bundesweit für Aufmerksamkeit gesorgt und zahlreiche überregionale Medien berichteten über die Veranstaltung. „Ist ja nichts Schlimmes passiert“ oder „Der Skandal blieb aus“ war in der Süddeutschen Zeitung, der taz und Deutschlandfunk zu lesen bzw. zu hören. Die WELT frohlockte gar mit Susanne Dagen, dass infolge der Debatte „LTI“ momentan in den Buchläden Dresdens vergriffen sei. Die hinter der Veranstaltung stehende Strategie der Neurechten wurde hingegen nur unzureichend erfasst. Fundierte Kritik war fast ausschließlich in den sozialen Medien zu lesen. So analysierte David Begrich auf X (ehemals twitter), dass die Indienstnahme von Klemperers „LTI“ durch die rechtsintellektuelle Szene ein Teil einer neurechten Literaturpolitik sei, um Resonanzräume zu erweitern und neue Publika anzusprechen und Lektüren „von rechts gelesen“ zu etablieren. Klemperers „LTI“ als Analyse der Sprache des Nationalsozialismus werde „dabei aktualisierend daraufhin gelesen, dass es Paralellen zu heutigen Praxen politischer Kommunikation gebe, die totalitäre Züge trüge“. Bei der „LTI“-Lesung handele „es sich somit um einen Versuch rechter Diskurspiraterie und intellektueller Entwendung“.
Veröffentlicht am 18. November 2023 um 18:00 Uhr von Redaktion in Antifa