Antifaschistische Bildungsfahrt: Athen – Distomo – Thessaloniki
2. November 2023 - 22:48 Uhr
Vom 2. – 7. Oktober fand eine Bildungsfahrt, organisiert von akubiz e.V., der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen und dem Athener Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung statt. Eine Redakteur:in von addn.me war dabei.
Einleitung
Im Rahmen des Balkanfeldzuges überschritten am 6. April 1941 deutsche Truppen von Bulgarien aus die Grenzen Griechenlands. Nach der Kapitulation der griechischen Streitkräfte am 23. April 1941 erfolgte die Aufteilung Griechenlands in eine deutsche, eine italienische und eine bulgarische Besatzungszone. Die deutsche Terrorherrschaft begann zunächst mit einer massiven Ausplünderung des Landes, die im Winter 1941/192 zu einer großen Hungersnot führte, der bis zu 250.000 Griech:innen zum Opfer fielen. Bei Vergeltungs-maßnahmen für Widerstandshandlungen – beginnend mit Massenhinrichtungen von Zivilist:innen auf Kreta – wurden Tausende von Menschen ermordet. Die Grausamkeit der deutschen Besatzung stachelte den bewaffneten Widerstand einer überwiegend, aber nicht ausschließlich kommunistisch bestimmten Guerilla an. Sie setzte den Besatzern zwischen den Jahren 1941 – 1944 zu.
Mit groß angelegten Einkreisungsaktionen durchkämmten Wehrmachts-, SS- und andere Einheiten der Deutschen ganze Stadtviertel in Athen und töteten bei diesen „Bloccos“ meist an Ort und Stelle als „Kommunist:innen“ oder „Widerständler“ denunzierte Gefangene und trieben andere zu Hunderten in Zwangsarbeit und Gefangenschaft.
Deutsche Mordverbände verübten in zahlreichen des Widerstands verdächtigten Dörfern in ganz Griechenland Massenmorde an Zivilist:innen. Für diese Verbrechen stehen unter anderem die Namen Distomo, Kommeno, Kalavryta, Lingiades.
Nahezu die gesamte jüdische Bevölkerung Griechenlands wurde zwischen 1943 und 1944 von den Besatzungsmächten Deutschland und Bulgarien nach Ghettoisierung, Zwangsarbeit und Enteignung in deutsche Konzentrationslager deportiert und dort vernichtet. Dies gilt auch für die Juden:Jüdinnen Thessalonikis. Infolge der Deportationen, der Zerstörung des großen jüdischen Friedhofes und der Plünderung jüdischer Hinterlassenschaften ist die jahrhundertealte jüdisch-ladinische Kultur Thessalonikis fast vollkommen verschwunden. Es gibt nur wenige Bestrebungen, ihre einzigartige Geschichte zu erzählen und ihr Verschwinden aufzuarbeiten.
Für die Menschheitsverbrechen in Griechenland sind die Verantwortlichen kaum zur Rechenschaft gezogen worden. Die Diskussion um Reparationen für die systematische Ausraubung und die ungeheuren Zerstörungen, die die Deutschen in Griechenland angerichtet haben, ist bis heute nicht verstummt. Akzeptable Lösungsvorschläge scheitern jedoch an der Weigerung der deutschen Seite, die Verantwortung jenseits von Lippenbekenntnissen anzuerkennen und Griechenland konsequent zu entschädigen.
Montag, 2.10.23: Athen
Der erste Tag begann mit einem Besuch des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung Athen. Wir wurden dort von Büroleiter Fritz Burschel über die Projekte, Kooperationen und Veröffentlichungen der Stiftung informiert, die seit 10 Jahren in Athen ein Büro unterhält. Als Beispiel sei hier eine Publikation zur Kampagne „X them out“ genannt, die Naziangriffe auf Migrant:innen und Geflüchtete in Griechenland dokumentiert, die in ihrem vollen Ausmaß erst durch den Prozess gegen die Goldene Morgenröte bekannt wurden. Neben Veranstaltungen und Publikationen ist die Rosa-Luxemburg-Stiftung auch bei der Prozessbeobachtung aktiv. So begleitete sie den Prozess um den Mord an dem LGBTQIA+ -Aktivisten Zak Kostopoulos und unterstützt aktuell die Anwält:innen der Nebenklage im Revisionsverfahren gegen die Goldene Morgenröte.
Am Nachmittag folgte eine Führung mit dem Historiker Kostis Karpozilos durch den Athener Stadtteil Kesariani. Kesariani gehört zu einem „roten Gürtel“ von Arbeiter:innenvierteln, welche die Innenstadtbezirke Athens umschließen. Sie entstanden ab 1922 an den damaligen Stadtgrenzen durch die Ansiedlung von Flüchtlingen aus Kleinasien in Folge des mit dem Vertrag von Lausanne beschlossenen Bevölkerungsaustausches. Bis hinein in die Zeit der deutschen Besatzung war das Viertel von der kommunistischen Arbeiter:innenbewegung geprägt. Aus diesem Grund nutzten die Deutschen ab 1942 den bis dahin zivil genutzten Schießstand im Skopeftiriopark als Hinrichtungsstätte für im KZ Chaidari inhaftierte griechische Antifaschist:innen und Widerstandskämpfer:innen.
Eines der grausamsten Massaker hier war die Hinrichtung von 200 politischen Gefangenen aus dem KZ Chaidari am 1. Mai 1944, das als „Vergeltungsmaßnahme“ für den Tod von Generalmajor Franz Krech und drei Mitgliedern seiner Eskorte galt. Der Kommandeur der 41. Festungsdivision und sein Gefolge war auf dem Peloponnes in einem Hinterhalt der griechischen Volksbefreiungsarmee ELAS getötet worden. Heute befindet sich auf dem Areal in Chaidari eine Gedenkstätte, die an die insgesamt 600 hier erschossenen Menschen erinnert. Ihre Namen und das Datum ihrer Hinrichtungen sind in schwarze Granittafeln eingelassen. Ein Besuch der Gedenkstätte ist allerdings nur nach Anmeldung möglich – zur Vermeidung von Vandalismus ist sie abgeschlossen. Einige der Straßen um den Skopeftirio-Park sind nach Widerstandskämpfer:innen benannt. Eine von ihnen erinnert an die 17-jährige Iro Konstantopoulou, die am 5. September 1944 am Schießstand von Kesariani erschossen wurde.
Dienstag, 3.10.23: Athen
Am Vormittag des 3. Oktober besuchten wir die Gedenkstätte Korai 4 in der Athener Innenstadt. Im Gebäude Korai 4 im Zentrum von Athen befand sich bis 1941 die Nationale Versicherungsanstalt. In deren Luftschutzkeller betrieb die Gestapo einen Folterkeller und quälte dort politische Gegner:innen. Hierfür hatte sie das 1. und 2. Kellergeschoss zu einem Gefängnis mit Isolationszellen und schalldichten Eisentüren umgebaut. Die Korai 4 war überwiegend ein Transferzentrum. Die Gefangenen wurden von dort in das Averoff-Gefängnis, vor deutsche Kriegsgerichte, in Konzentrations- und Arbeitslager oder zu ihrer Hinrichtung transportiert. Der Ort wurde 1991 unter Denkmalschutz gestellt. In diesem Zusammenhang wurden auch verborgene Notizen, Botschaften und Zeichnungen freigelegt, die die Gefangenen an den Wänden hinterlassen hatten. So hinterließ bespielsweise der Gefangene Manolis Mauromatakis, kurz vor seinem Tod eine letzte Nachricht: „Mauromatakis wurde im Keller hingerichtet“. Der Ort ist seit 2005 öffentlich zugänglich.
Im Anschluss suchten wir in der Gladstonosstraße den Ort auf, an dem Zak Kostopoulos am 21. September 2018 ermordet wurde. Zak Kostopoulos, in Athen ebenfalls unter seinem Drag-Namen Zackie Oh bekannt, war Aktivist der LGBTQIA+-Community. Er setzte sich für die Rechte von HIV-Positiven, Sexarbeiter:innen und Migrant:innen ein. Kostopoulos war vermutlich nach einem Streit auf offener Straße in einen Juwelierladen geflüchtet und wurde von dem Ladenbesitzer und einem anwesenden Kunden, einem Mitglied der rechtsradikalen Goldene Morgenröte, stark zusammengeschlagen. Durch die hinzu gekommenen Polizeikräften wurde er zusätzlich verletzt und starb auf dem Weg ins Krankenhaus. Durch die Analyse von Forensic Architecture konnte zwar ein wichtiger Zeuge ermittelt werden – eine vollständige Aufklärung der Umstände des Mordes an Zackie Oh gelang dennoch bis heute nicht.
Nur wenige Meter entfernt, ebenfalls in der Gladstonosstraße, stehen zwei Gedenkstelen, die an fünf Mitglieder der bürgerlichen Widerstandsorganisation PEAN erinnern. Sie hatten am 20. September 1942 einen Sprengstoffanschlag auf den in der Gladstonos befindlichen Sitz der ESPO verübt. Die ESPO war eine nationalsozialistische Organisation, die Soldaten und Offiziere zu einer griechischen Einheit der Waffen-SS rekrutierte. Darüber wie viele deutsche Offiziere bzw. ESPO-Mitglieder bei dem Attentat ums Leben kamen, besteht Unklarheit. Nach dem Anschlag verlor die ESPO an Bedeutung. Die Widerstandskämpfer:innen wurden verraten und in der Hinrichtungsstätte Kesariani erschossen. Julia Biba, die den Sprengstoff in einer Einkaufstasche zum Ort des Anschlags brachte, soll in einem deutschen Konzentrationslager enthauptet worden sein.
Am Nachmittag besichtigten wir den letzten verbliebenen Block des ehemaligen Konzentrationslagers Chaidari in der gleichnamigen Vorstadt im Nordwesten Athens. Das KZ Chaidari wurde von September 1943 bis zum Abzug der Deutschen aus Athen im Oktober 1944 durch die SS mit Unterstützung von Wehrmacht und Gestapo betrieben. Insgesamt waren in diesem Zeitraum 25.000 Gefangene im KZ Chaidari inhaftiert, darunter auch Kinder. Die durchschnittliche Zahl der Inhaftierten belief sich auf etwa 2.000-3.000. Inhaftiert waren vor allem Menschen, die bei Razzien zur Unterbindung des Widerstands in verschiedenen Teilen Athens gefangen genommen wurden. Viele der Häftlinge wurden in Konzentrationslager nach Deutschland oder Polen deportiert oder am Schießstand von Kesariani ermordet. Darüber hinaus war Chaidari auch Durchgangsstation für Jüdinnen:Juden, die von dort in die deutschen Vernichtungslager in Polen deportiert wurden. Unterernährung, Zwangsarbeit und Folterungen gehörten zum Alltag im KZ Chaidari. Von Zeitzeug:innen wurde es das „Herz der Hölle“ genannt.
Heute erinnert eine schlichte Gedenktafel auf der rechten Seite des Eingangs an das Martyrium, der hier gefangenen Widerstandskämpfer:innen – eine weitere 2021 angebrachte Gedenktafel an die hier inhaftierten Jüdinnen:Juden. Der Block 15 steht zwar seit den 1980er Jahren unter Denkmalschutz, befindet sich allerdings auf militärischem Sperrgebiet und ist somit für die Öffentlichkeit nur mit einer Sondergenehmigung zugänglich. Wir legten vor dem Eingang zu Block 15 Blumen ab und erinnerten an Lela Karagianni. Die von ihr gegründete Undergrundorganisation Bouboulina fälschte Ausweispapiere und organisierte sichere Unterkünfte. Auch half sie, gefährdeten Menschen, zu den Partisan:innen oder ins Ausland zu flüchten, so auch vielen Jüdinnen:Juden, u.a. der aus Thessaloniki stammenden Familie Samuel Cohen. Lela Karagianni wurde am 11. Juli 1944 verhaftet, gefoltert und anschließend in das Konzentrationslager Chaidari gebracht. Zusammen mit 71 Mitgliedern der Bouboulina-Organisation wurde sie am 8. September 1944 im Wald von Daphni erschossen. Im Jahr 2011 wurde Lela Karagianni durch die israelische Gedenkstätte Yad Vashem als Gerechte unter den Völkern ausgezeichnet.
Im Anschluss fuhren wir nach Keratsini, eine westliche Vorstadt von Athen und Piräus. Hier wurde am 13. September 2013 der antifaschistische Rapper Pavlos Fyssas („Killah P.“) von einem Mitglied der neonazistischen Partei „Goldene Morgenröte“ erstochen. Wir trafen seine Mutter, Magda Fyssas und weitere Menschen der Kulturinitiative Pavlos Fyssas zu einem gemeinsamen Besuch am Denkmal für Pavlos Fyssas und anschließend zu einem Gespräch in einem Kulturzentrum. Die Initiative gründete sich am Tag nach Pavlos Tod im Anschluss an eine Demonstration. Das Ziel der Initiative – neben der Erinnerung an Pavlos – war das Ende der faschistischen Stoßtrupps der Goldenen Morgenröte, die zwischen 2007 und 2013 zahlreiche Übergriffe auf Migrant:innen verübt hatten und zahlreiche Menschen schwer verletzten, wie den ägyptischen Fischereiarbeiter Abuzid Embarak oder töteten, wie den pakistanischen Arbeiter Petralona Schahzad Lukman. „Kein weiteres Opfer!“ und „Die Goldene Morgenröte vor Gericht!“ waren daher zentralen Forderungen der Initiative. Die landesweiten antifaschistischen Demonstrationen und die internationale Aufmerksamkeit für den Tod von Pavlos Fyssas sorgten erstmals für ein staatliches Durchgreifen gegen die Neonazi-Partei. Bis dahin hatten die Behörden ihrem Treiben jahrelang tatenlos zugesehen. Und tatsächlich verschwanden die Stoßtrupps von der Straße, nachdem sich die Kader der Partei auf der Anklagebank wiederfanden. Nach fünfeinhalb Jahren endete im Oktober 2020 der Prozess gegen 68 Angeklagte. Das Gericht befand den Anführer und sechs höhere Funktionäre der Goldenen Morgenröte der Rädelsführerschaft in einer kriminellen Vereinigung für schuldig und weitere 43 ihrer Mitglieder der Beteiligung an solch einer Vereinigung. Die Urteilsverkündung wurde von zehntausenden Menschen, die sich vor dem Gericht versammelt hatten, gefeiert.
Jenseits des Prozesses, mit dessen Begleitung die Initiative fünfeinhalb Jahre beschäftigt war, erinnert sie jedes Jahr im September mit Kulturveranstaltungen an Pavlos Fyssas. Zum 1. Jahrestag des Mordes führte sie eine aktionistische Umbenennung der Straße, in der die Tat geschah, durch. So konnte die Gemeinde Keterisani dazu gebracht werden, ein Jahr später eine offizielle Straßenumbenennung vorzunehmen. Am ersten Novemberwochenende findet zudem seit 2 Jahren ein Solidaritäts-Filmfestival in Gedenken an Pavlos Fyssas statt. Desweiteren ist die Initiative mit dem aktuell stattfindenden Berufungsverfahren befasst.
Mittwoch, 4.10.23: Distomo
Am nächsten Morgen starteten wir mit dem Bus in Richtung Distomo. Die Kleinstadt am Fuße des Parnassgebirges befindet sich etwa 1,5 Autostunden von Athen entfernt. Kurz vor Distomo legten wir einen Stopp am Karakolithos Denkmal in der Nähe der Stadt Livadia ein. Den ELAS-Partisan:innen war es am 25. April 1944 auf der Straße zwischen Livadia und Distomo gelungen 17 deutsche Offiziere gefangen zu nehmen. Sie boten den Deutschen deren Freilassung im Austausch gegen 32 griechische Gefangene an. Die deutsche Antwort darauf war die umgehende Erschießung von 136 griechischen Gefangenen an eben jener Stelle, an der 1997 das Denkmal errichtet wurde.
Am Vormittag erreichten wir schließlich Distomo. In diesem damals wenige hundert Einwohner:innen zählenden Ort begingen am 10. Juni 1944 Angehörige der zweiten Kompanie der vierten SS-Polizei-Panzergrenadier-Division ein Massaker an den Bewohner:innen. Sie töteten alle zum Zeitpunkt anwesenden 218 Menschen, darunter 38 Kinder und setzten die Häuser in Brand. Einige Wenige konnten fliehen oder sich verstecken. Zusammen mit dem Bürgermeister Yioannis Stathis und dem Museumsguide Lukas Dimakas besuchten wir die Gedenkstätte auf einem nahe gelegenen Hügel, in der die Gebeine der Ermordeten aufbewahrt werden. Vor dem Hintergrund auch heute noch stattfindender Kriegsverbrechen, wie jüngst in der Ukraine, betonte Yioannis Stathis die Bedeutung von Reparationszahlungen. Offene Rechnungen auf Seiten der Bundesrepublik bestehen seiner Ansicht nach hinsichtlich der Kriegsreparationen (270 Mrd. Euro für die Zerstörung von Infrastruktur), der Rückzahlung des Zwangskredites (15 Mrd. Euro), der Rückgabe geraubter Kunst- und Kulturgüter sowie der Entschädigung der Kriegsverbrechen, wie dem im Distomo.
Bekanntheit erlangte der Name Distomo 1995 durch ein eingeleitetes Gerichtsverfahren vor dem Landgericht Livadia. Einer der wenigen Überlebenden des Massakers, Argyris Sfountouris, der am 10. Juni 1944 seine Eltern und dreißig Familienangehörige verloren hatte, forderte mit anderen Überlebenden von der BRD Entschädigungsleistungen. 1997 sprach das griechische Gericht den 296 Kläger:innen eine Entschädigung von 28 Millionen Euro zu. Der griechische Justizminister vollstreckte das Urteil allerdings nicht, nachdem die deutsche Regierung bei ihm interveniert hatte. Im Gegenzug sagte sie der griechischen Regierung ihre Unterstützung des Aufnahmeantrags bei der Europäischen Union zu. Die angedachte Zwangsversteigerung deutschen Eigentums in Griechenland zur Begleichung der Summe (z.B. des Goethe Instituts, des Deutschen Archäologischen Instituts und der deutschen Schule in Athen und Thessaloniki) erfolgte daher nicht. In den Folgejahren wehrte sich die BRD mit allen juristischen Mitteln gegen die angedrohte Vollstreckung durch Versteigerung deutschen Eigentums in Italien, wo eine Vollstreckung theoretisch möglich wäre. Italien kennt, anders als andere Staaten, im Falle von Verbrechen gegen die Menschheit keine Staatenimmunität. Somit ist es hier möglich die BRD für die Verbrechen von Wehrmacht und SS haftbar zu machen. Zuletzt hatte die BRD im Frühjahr 2022 ein Eilverfahren vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag angestrengt, um eine Vollstreckung zu verhindern. Im Juli 2023 entschied nun auch das Verfassungsgericht Italiens im Sinne der Bundesregierung, so dass neben hundert tausenden italienischen Opfern von NS-Kriegsverbrechen oder Zwangsarbeit auch den Überlebenden und Angehörigen von Opfern von Massakern in Griechenland der Rechtsweg in Italien verwehrt bleibt.
Donnerstag 5.10.23: Thessaloniki
Am Donnerstag morgen sind wir von Arachova, einer von Skitourismus geprägten Kleinstadt am Südhang des Parnassos, in der wir die Nacht verbracht hatten, nach Thessaloniki aufgebrochen. Während der Busfahrt gab es einen Input eines Teilnehmers über das Große Feuer von 1917, welches große Teile der Stadt Saloniki zerstörte, überwiegend die Viertel der Jüdischen Community.
Ein großer Teil der 100.000 Juden:Jüdinnen, die im Jahr 1492 aus Spanien vertrieben wurden, fand Zuflucht in der osmanischen Hafenstadt Thessaloniki, kurz Saloniki. Dort bildeten sie bald neben den Griech:innen und Türk:innen die Bevölkerungsmehrheit. Es gab zahlreiche Synagogen, jüdische Schulen, Bibliotheken und Vereine. Ladino war Verkehrssprache, der arbeitsfreie Tag der Woche war der Samstag (Shabbat). Um 1900 lebten ungefähr 80.000 jüdische Einwohner:innen in Thessaloniki. Die Stadt war damals auch unter den Beinamen „Jerusalem des Balkans“ und „Mutter Israels“ bekannt.
Im Zuge des ersten Balkankrieges 1912 wurde Thessalonikis durch die griechische Armee erobert und in den neohellenistischen griechischen Staat integriert. Die Juden:Jüdinnen bemühten sich vergeblich um die Gründung einer „jüdischen Republik“ in der Hafenstadt. Der Große Brand am 5. August 1917 zerstörte nahezu das gesamte Zentrum der Stadt, vor allem das Handels- und Gewerbezentrum und die benachbarten jüdischen Wohnviertel. Neue Wohnquartiere für die 50.000 obdachlosen Juden:Jüdinnen wurden allerdings nicht auf dem zerstörten Territorium errichtet, sondern am Stadtrand. Die griechische Führung griff bei der Rekonstruktion der Stadt auf die Stadtstruktur der hellenistischen und byzantinischen Epoche zurück, charakteristische Strukturen und Elemente aus der osmanischen Epoche verschwanden komplett aus dem Stadtbild. Die Aufnahme griechischer Flüchtlinge aus Kleinasien 1922-23 und die Vertreibung der muslimischen Bewohner:innen verstärkte zusätzlich diese ‚Europäisierung‘ der zuvor kosmopolitischen Balkanmetropole Salonika.
In Thessaloniki angekommen trafen wir die Historikerin Rena Molho an der Uferpromenade für einen Spaziergang zu den mittlerweile größtenteils unsichtbaren Spuren jüdischen Lebens im Stadtzentrum. Rena Mohlo wurde 1946 in Thessaloniki geboren. Sie hat an der Panteion-Universität Athen jüdische Geschichte Griechenlands und des Osmanischen Reichs gelehrt und geforscht. Ihr Buch „The Holocaust of Greek Jews, Studies in History and Memory“ ist auch in deutscher Sprache erschienen. Wir besuchten u.a. das Holocaustdenkmal an der dem Meer zugewandten Seite des Eleftheria-Platzes. Es steht an dem Ort, an dem am 11. Juli 1942 der so genannte „Schwarze Sabbath“ stattfand. Nach einer Anordnung zur Zwangsarbeit für alle männlichen unbeschäftigten Juden griechischer Staatsangehörigkeit mussten sich an diesem Tag 9.000 Juden auf dem Platz versammeln und bei extremer Hitze stundenlang öffentlich mustern lassen. Von deutschen Offizieren und Soldaten wurden sie mit Peitschenschlägen zu gymnastischen Übungen angetrieben. Von den Balkonen der Villa Stein applaudierten Angestellte der Besatzungsbehörden, wenn wieder einer der Männer in der Sommerhitze zusammenbrach. Etwa 3.500 Juden wurden anschließend zur Zwangsarbeit verpflichtet und vorwiegend im Straßenbau eingesetzt. Bis zur Einstellung der Aktion im Oktober 1942 starben ca. 400 Menschen an den unmenschlichen Arbeits- und Lebensbedingungen.
Freitag, 6.10.23: Thessaloniki
Den Freitag Vormittag verbrachten wir wieder mit Rena Molho. Wir besuchten die Monastiriótes Synagoge in der Sýngrou Straße. Von ehemals 40 Synagogen zum Beginn der deutschen Besatzung, ist diese eine von zwei noch existierenden. Sie wurde nur deshalb nicht zerstört, weil das Rote Kreuz dort nach der Deportation der Juden:Jüdinnen ein Lager hatte. Bei der anschließenden Bustour mit Rena umfuhren wir als erstes das Gelände der Aristoteles-Universität. Hier befand sich bis 1942 mit 300.000 Gräbern einer der größten jüdischen Friedhöfe der Welt und zugleich eindrucksvolles Zeugnis der jahrhundertelangen jüdischen Besiedlung der Stadt.
Er wurde mit Zustimmung der deutscher Besatzer von der griechischen Stadtverwaltung, die schon geraume Zeit mit der jüdischen Gemeinde über eine Verlegung gestritten hatte, zerstört. Die Grabsteine wurden entwendet und anschließend als Baumaterial für Gehwege, Bordsteine und Gebäude eingesetzt. Diese Schändung bedeutet in der jüdischen Tradition einen besonders drastischen Bruch, da jüdische Friedhöfe immer für die Ewigkeit angelegt werden und auf ihnen besondere Regeln gelten. Erst 2014 stimmte die Universität der Errichtung eines Denkmales auf dem Campus zu, welches an den Friedhof, seine Zerstörung und die deportierten Juden:Jüdinnen Thessalonikis erinnert. Seit seiner Einrichtung wurde es mehrfach beschädigt und mit antisemitischen Sprüchen und faschistischen Symbolen versehen.
Die nächste Station war der nach dem Zweiten Weltkrieg im Vorort Stavroupolis entstandene neue jüdische Friedhof. Neben den neuen Gräbern befinden sich dort einige gerettete Grabsteine vom alten jüdischen Friedhof, darüber hinaus zwei Denkmale, die an die Opfer der Shoa erinnern.
Als letztes legten wir einen Stopp in der Stathmoustraße an dem Ort ein, an dem sich der Bahnhof befand. Von hier aus wurden zwischen dem 15. März und dem 11. August 1943 etwa 50.000 jüdische Frauen, Männer und Kinder aus Thessaloniki in die deutschen Vernichtungslager Auschwitz, Treblinka und Bergen-Belsen deportiert. Anders als in anderen Teilen Griechenlands, in denen eine größere Zahl von Juden:Jüdinnen durch Fluchthilfe oder durch Verstecken gerettet werden konnte – nicht wenige Juden:Jüdinnen kämpften auch in den Reihen der ELAS – wurde den verfolgten Juden:Jüdinnen Thessalonikis offenbar nicht durch die nicht-jüdischen Stadtbewohner:innen beigestanden. Nahezu die gesamte jüdische Gemeinde wurde ausgelöscht. Rena Mohlo vermutet, dass es die Christ:innen auf die geleerten 12.000 Wohnungen und 2.200 Geschäfte abgesehen hatten. Die 1.960 Shoa-Überlebenden, die nach Thessaloniki zurückkehrten, fanden jedenfalls ihre Wohnungen besetzt vor und mussten in Parks übernachten. Seit 2004 erinnert eine Gedenktafel an der Fassade eines nach der Zerstörung des alten Bahnhofsgebäudes dort neu errichteten Gebäudes an die Deportationen. Unter dem Motto „Pote Xana“ – „Nie wieder“ wird seit einigen Jahren am 15. März – dem Jahrestag der ersten Deportation – eine Gedenkdemonstration vom Holocaust Denkmal am Eleftherias-Platz bis zum alten Bahnhof durchgeführt.
Jahrzehntelang gab es in Thessaloniki nahezu keine Hinweise auf die jüdische Vergangenheit der Stadt, ihre jüdischen Bewohner:innen und noch weniger auf ihre Deportation und Vernichtung. 1997, im Jahr als Thessaloniki Kulturhauptstadt war, wurde das Holocaust Denkmal am Eleftheria-Platz errichtet. Seitdem gibt es die Forderung den Platz würdevoller zu gestalten, z.B. durch Umwandlung in einen Park. 2004 kamen dann die Gedenkstätte auf dem Uni-Campus und die Gedenktafel am Ort der Deportationen dazu. Auf dem Gelände des Alten Bahnhofs ist zudem die Errichtung des Holocaust Memorial & Human Rights Educational Center vorgesehen. Ende Januar 2018 erfolgte die Grundsteinlegung. Geplant ist ein gut 32 Meter hoher, acht-eckiger Turm, der auf sechs Etagen ein Museum sowie ein Bildungszentrum beherbergen soll. Der Bau soll Ende 2023 beginnen.
Im Anschluss an die Bustour besuchten wir das Jüdische Museum Thessalonikis, welches 2001 durch die jüdische Gemeinde in einer alten Geschäftspassage eingerichtet wurde. Von 1909 bis 1941 hatte dort die Redaktion der „L’Independent“, eine jüdischen Zeitung, die in französischer Sprache erschien, ihre Räume. Im Museum sind Schriftstücke und Gegenstände zu sehen, die die kontinuierliche Präsenz der Juden:Jüdinnen in Thessaloniki seit mehr als 2.000 Jahren dokumentieren. Das Museum hat Sammlungen von Grabsteinen des zerstörten jüdischen Friedhofs, Bauteilen von Synagogen, die von den deutschen Besatzungsbehörden abgerissen wurden, religiösen Gegenständen, familiären Erinnerungsstücken, Dokumenten aller Art, Fotos, Trachten, Stoffen, Tischdecken, Büchern und Bankkontenheften angelegt. In einem Gedenkraum wird zudem an die Opfer der Shoa erinnert.
Am Abend trafen wir Anastasios Katsaros im Café Poeta, einem kollektiv betriebenen Buchladen. Anastasios Katsaros ist Lokalhistoriker, forscht und publiziert zur Geschichte des Widerstandes gegen die Besatzung und hat dazu den Film „Auf der Suche nach dem Gold der Zeit“ veröffentlicht. Er hielt einen Input über die EAM (Nationale Befreiungsfront), eine der größten Widerstandsorganisationen gegen die deutsche Besatzung. Die EAM war eine breite Bewegung, die progressive Kräfte Griechenlands von den Linksliberalen bis zu den Kommunist:innen umfasste. Mehr als 1,6 Millionen Griech:innen waren in der EAM organisiert. Sie wurde am 28. September 1941 nach der Aufteilung Griechenlands in eine italienische, bulgarische und deutsche Besatzungszone gegründet. Zusammen mit der ELAS (Partisan:innenarmee) und der EPON (Jugendorganisation) war sie von großer Bedeutung für die Befreiung Griechenlands von der Besatzung. Während der Hungersnot im Winter 1941/42 organisierte sie Essensausgaben, mobilisierte zu Demonstrationen und Streiks für höhere Löhne und Lebensmittelzuteilungen und – erfolgreich – gegen die allgemeine Arbeitspflicht. Die EAM leistete einen wichtigen Beitrag zur Rettung von Juden:Jüdinnen, unterstützte beim Verstecken, Untertauchen und bei der Flucht ins Mandatsgebiet Palästina, wofür sie mit dem links-zionistischen Dachverband der Gewerkschaften Histratut zusammenarbeitete.
Die EAM kämpfte nicht nur gegen die Besatzung, sondern auch für eine bessere und gerechtere Gesellschaftsordnung. Sehr viele Frauen beteiligten sich am Widerstand, verteilten Flugblätter, kündigten Demonstrationen an, schrieben nachts politische Parolen an die Häuserwände, überbrachten Nachrichten und transportierten Waffen. Sie ließen sich militärisch ausbilden und gingen zusammen mit den Männern „in die Berge“.
Anastasios Katsaros berichtete auch über etwa 1.000 deutsche Soldaten der Wehrmacht, die sich den griechischen Partisan:innen der ELAS anschlossen. Es handelte sich bei ihnen um Antifaschist:innen, überwiegend Kommunisten, die in den so genannten Straf- oder Bewährungsbataillonen 999 in Griechenland eingesetzt wurden. Sie versorgten die ELAS mit Funkgeräten, Waffen und Informationen, in einem Fall auch über eine geplante Vergeltungsmaßnahme gegen das Dorf Iraki. Bei der Planung eines Aufstandes zweier Bataillone, die geschlossen zur ELAS überlaufen wollten, spielte der Dresdner Kommunist Heinz Steyer, nach dem seit 1949 in Dresden-Friedrichstadt ein Stadion benannt ist, eine zentrale Rolle. Die Aufstandspläne wurden verraten, sechs Kommunisten darunter auch Steyer erschossen. Zu den kommunistischen Überläufern gehörte auch Alfred Möbius. Zuvor war der in Sebnitz geborene Alfred Möbius Mitglied der „Naturfreunde“ und der Vereinigten Kletterabteilung (VKA). Er war im Konzentrationslager Hohnstein inhaftiert, emigrierte nach der Freilassung in die ČSR, war dort in der illegalen Grenzarbeit zwischen Böhmen und Sachsen aktiv und beteiligte sich an den Kämpfen im Spanienkrieg. Nach 22 Monaten in einem französischen Internierungslager und anschließender Gestapohaft kam er in ein Strafbataillon 999 nach Griechenland. Auch in diesem Batallion wurden Aufstandspläne geschmiedet, die allerdings ebenfalls verraten wurden. Mehrere Personen, darunter auch Alfred Möbius, wurden verhaftet. Im Chaos eines britischen Fliegerangriffs gelang ihm schließlich im September 1944 die Flucht und der Anschluss an das 54. Regiment der ELAS.
Samstag, 7.10.23: Thessaloniki
Der Samstag war unser freier Tag. Wir nutzten ihn um zusammen mit Athanasios durch die Oberstadt Thessalonikis zu spazieren und das Heptapyrgion zu besichtigen. Die ‚Burg der sieben Türme‘, auch unter dem osmanischen Namen Yedikule bekannt, ist eine Zitadelle aus byzantinischer und osmanischer Zeit, beherbergte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die Garnison des Osmanischen Reiches und diente bis 1989 als Gefängnis. Der Blick von dort reicht über die gesamte Stadt, den Thermaischen Golf bis hin zum Bergmassiv Chortiatis. In dem dort gelegenen gleichnamigen Dorf fand am 2. September kurz vor dem Abzug der Deutschen aus Griechenland eine so genannte Vergeltungsmaßnahme statt. Unter dem Kommando von Oberfeldwebel Fritz Schubert („Sonderkommando Schubert“) wurden alle 149 anwesenden Menschen auf dem Dorfplatz zusammengetrieben, in mehrere Gebäude gesperrt und bei lebendigem Leib verbrandt.
Fritz Schubert war einer der wenigen Täter, die für Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung juristisch belangt wurden. Er wurde 1947 zum Tode verurteilt. Die Vollstreckung des Urteils erfolgte im Gefängnis Heptapyrgion.
Der griechische Bürgerkrieg zwischen linken Partisan:innen und rechten Militärs (1946-1949) und die Militärdiktatur von 1967-1974 verhinderten lange Zeit eine Würdigung des linken Widerstandes gegen die Besatzung. Erst 1982 wurde durch die sozialdemokratische Regierung Andreas Papandreou ein Gesetz erlassen, dass die EAM und die ELAS als Widerstandsorganisationen anerkannte. Dennoch wird der Erinnerung an die linken Widerstandskämpfer:innen, die in der Besatzungszeit gefangen genommen, gefoltert und ermordet wurden, offenbar bis heute wenig Bedeutung beigemessen. Das EAM Museum in Athen wird ehrenamtlich betrieben, der Block 15 des ehemaligen KZ Chaidari ist ebenso wenig eine öffentlich zugängliche Gedenkstätte wie das ehemalige KZ Pavlos Melas in einem Vorort von Thessaloniki. Hier bestehen zwar Pläne für die Anlage eines Parkes sowie zweier Museen, von denen eines dem Widerstand gewidmet sein soll. Im März 2017 übergab Ministerpräsident Alexis Tsipras das ehemalige Militärgelände der Gemeinde. Ob an den Plänen aktuell noch festgehalten wird, ist uns nicht bekannt. Zum Zeitpunkt unserer Reise war das Gelände eine Baustelle: die ehemaligen Baracken wurden gerade abgerissen.
Nachtrag
Das Programm ist nur unvollständig wiedergegeben. Es gab noch weitere Programmpunkte, die aus Zeit- und Platzgründen nicht ausführlich wiedergegeben werden können: Am Abend des 2.10. trafen wir Ioanna Meitani von der Athener Initiative Simeio, die Umfragen und Analysen zur extremen Rechten und Vernetzungsarbeit zwischen antifaschistischen Organisationen machen. Achilleas Fotakis gab uns einen umfassenden Einblick über die Entwicklung des Antisemitismus in Griechenland. Am Abend des 4.10. trafen wir uns mit der Rechtsanwältin und Aktivistin Yiota Massouridou, die uns von der Situation an Griechenlands Grenzen und der unzumutbaren Situation für Menschen auf der Flucht berichtete. Am Abend des 5.10. waren wir von Aktivist:innen der Plattform Alterthess (kurz für Alternatives Thessaloniki) in das Social Center in der Valaoritou Straße eingeladen worden. Sie berichteten über die Hintergründe des Aufstieges rechter Parteien in der Vergangenheit und über aktuelle rechte Umtriebe und Strukturen in Thessaloniki. Bei den Wahlen im Juni diesen Jahres hatte die konservative Partei Nea Dimokratia die absolute Mehrheit erzielt. Drei rechtsextreme Parteien bekamen zusammen 15 Prozent der Wähler:innenstimmen.
Veröffentlicht am 2. November 2023 um 22:48 Uhr von Redaktion in Antifa, International