Am Staatsschauspiel läuft derzeit das Stück „Der Tartuffe oder Kapital und Ideologie“.
12. Februar 2023 - 22:07 Uhr
Eine Rezension
Auf großer Bühne inszeniert der Regisseur Volker Lösch die Geschichte einer Hausgemeinschaft von den 1980er Jahren bis kurz nach dem Bankencrash an der New Yorker Börse des Jahres 2008. Dabei spart das Stück geschrieben von Soeren Voima nicht an audiovisuellen Eindrücken: wechselnde Kostüme, ein sich änderndes Bühnenbild und Musikeinspieler aus den jeweiligen Jahren liefern zusammen ein ordentliches Spektakel. Die Aufführung beginnt mit einem lauten Knall und geht mitunter schrill weiter, viel Sex, Geschrei und Hektik, ein bisschen Slap-Stick Humor. An manchen Stellen ist es zu viel des Guten, doch das Stück provoziert gekonnt auch einige Lacher. Die Momente, in denen die Ohren unnötig dröhnen sind nicht allzu häufig. Und schließlich geht es, in dem an eine Komödie des französischen Schriftstellers Molière angelehnten Stück, um die Modernisierung des Kapitalismus im 21. Jahrhundert. Das war bekanntlich ein Vorgang, der auch mit einigem Spektakel und viel Lärm einher ging.
Am Anfang ist noch alles gut: Der Sozialdemokrat und Hausbesitzer Orgon betrauert den steten Verfall seiner ererbten Immobilie, die von einer Bande aus Student*innen, einem Tantra-Hippie und einer Arbeiterin kollektiviert wurde. Gleichzeitig mag er sich auch dem Druck der Madame Pernelle, Mutter und Nazierbin, nicht beugen, die ihn drängen will, endlich mit dem bunten Treiben Schluss zu machen. Schließlich gehört auch er zu der 68er Truppe. Zur Freude der Mutter allerdings findet er einen neuen Freund in der Gestalt des Tartuffe. Dieser hat die neoliberale Ideologie studiert, verinnerlicht und in Chile angewendet. Auch er ist besorgt um das verfallende Eigentum und vermag es, Orgon Tipps an die Hand zu geben, wie er ohne großen Eklat mehr Geld mit den Bewohner*innen verdienen kann.
Letztere ahnen von all dem zunächst nichts. Sie schwelgen in Sex und freier Liebe, hegen Revolutionsphantasien und legen sich mit vorbei ziehenden Neonazis an. Doch bröckelt auch hier die Harmonie. Die weiblichen Teile pöbeln gegen das Mackertum der Männer, die sie wiederum am liebsten mit dem Schwanz befreien wollen. Mehr als einmal hagelt es Schellen. Gleichzeitig verdrängen die vier Student:innen die fünfte, etwas zaghafte Stimme der einzigen Arbeiterin. Sie würde arbeiten, kann aber nicht, weil in den 1980er Jahren das Wirtschaftswunder nachgelassen und die Arbeitslosgikeit zugenommen hat. Die SPD hat darauf keine Antwort, es folgt die Ära Helmut Kohls und der Fall der Mauer.
Der Erste der vom Gespann aus SPDler, Mutter und Tartuffe von seiner revolutionären Phrasendrescherei abgebracht wird, ist der Tantrafanatiker Damis. Er transformiert seine Befreiungsideologie aus Sex und Yoga erfolgreich in ein Business. Der Nächste ist der Waffenfetischist Valère, der unschwer als Karikatur der K-Gruppen zu erkennen ist. Er tauscht den Revolver gegen Computer und macht ein Vermögen mit Internetkriminalität. Und so fallen nach einander alle um: aus der wortgewaltigen Studentin Marianne wird eine Selfmade-Frau und Influencerin. Der nach dem Mauerfall eingeführte DDR-Bürger Klaus häuft Weiterbildungen an und folgt dem Weg des lebenslangen Lernens. Dem SPDler Orgon steigt die Regierungszeit von 1998 bis 2005 zu Kopf und er macht fortan in Aktien, um das ganz große Geld zu machen.
Die Madame Pernelle wirft sich dem Tartuffen an den Hals und wird verraten. Einzig die Arbeiterin Dorine bleibt arm und prekär. Sie verzichtet für ihre Anstellung beim Hausbesitzer auf die Gewerkschaftsmitgliedschaft und wird durch ihre Skepsis gegenüber Krediten vor Schulden bewahrt. Die einzige, die zumindest dem Anschein nach ihre revolutionären Ideen über die Zeit retten kann, ist die Studentin Elmire, die sich zu einer investigativen Journalistin mausert. All das geschieht unter den Augen des fetter werdenden Tartuffe, der sich immer neue Ideen ersinnt, um den anderen freie Märkte und freien Wettbewerb schmackhaft zu machen.
Eine große Stärke des Stücks ist die Entwicklung der einzelnen Charaktere, für die sich in den zweieinhalb Stunden reichlich Zeit genommen wird. Ohne in allzu plumpe Bilder abzuschweifen, werden auf der einen Seite vier Männer präsentiert, die vier sehr unterschiedliche, aber umso verachtenswertere Entwicklungen durch machen. Der Tartuffe entwickelt sich vom Business Punk zum steinreichen Prediger des Kapitalismus mit Gottkomplex. Fest an seiner Seite steht ab der Hälfte des Stücks der gewaltaffine Valère, der sowohl als Revoluzzer, als auch als Neureicher seiner Frauenverachtung freie Bahn lässt. Der SPDler legt Selbstmitleid und Zweifel ab, nur um sie gegen eine strunzdoofe Hinwendung zum Kapitalismus einzutauschen. Aus dem Tantraprediger schält sich nach und nach der faschistische Kern eines Attila Hildmanns heraus.
Wer zwischendurch Angst hatte, dass Stück könnte dem einzigen Ex-Zonenbewohner Klaus die Rolle des Neonazis verpassen, atmet hier auf. Stattdessen darf Klaus in der Rolle des besseren Kapitalisten aufgehen: er hat all die Apologet:innen des freien Marktes gelesen und eifert ihnen nach. Allein, der Traum mit harter Arbeit zu Reichtum zu kommen, ist ausgeträumt.
Zeitgenössisches Theater als Kapitalismuskritik?
Mit der Stimme Elmires schafft es das Stück, Identitätspolitiken als kapitalismuskonform zu entlarven. Den Figuren werden zahlreiche Identitätsanpassungen abverlangt, nur um nicht vor die Hunde zu gehen. Sogar Valère ringt sich im Begeisterungstaumel über die Aktiengewinne einen intensiven, homoerotischen Kuss mit Tartuffe ab. Der Gewinn an persönlicher Freiheit für Flintas* wird aber auch dann nicht ins Lächerliche gezogen, wenn die Charaktermasken des Kapitals die korrekte Genderform anwenden. Die männlichen Figuren bleiben als Hauptprofiteure, Nutznießer und nützliche Idioten im Zentrum der Kritik. So schafft es die Erzählung eine vielschichtige Analyse zu präsentieren. Womit wir bei den Kritikpunkten angelangt wären.
Denn am Ende bleibt die Frage, woran denn nun genau Kritik geübt wird. Im Stück sind es immer wieder die Eigentumsverhältnisse, ob in den Liebesbeziehungen oder beim Wohneigentum. Die ganze Zeit über wird klar gemacht, das Problem ist, dass einer das Haus besitzt und die anderen raus werfen kann. In den Beziehungen konkurrieren die Männer miteinander darum, wem welche Frau gehört. Letztere sind fähig und willens diese Herrschaft abzustreifen. Als aber die Existenz der Marianne als Influencerin vor die Hunde zu gehen droht, muss auch sie sich wieder der Männerwelt anbiedern, um zu überleben.
Am Ende des Stücks hingegen rücken die Schauspieler*innen dann plötzlich von dieser grundsätzlichen Kritik ab. Die Zuschauer*innen bekommen in einer langen Sequenz stattdessen die Überlegungen des französischen Soziologen Thomas Piketty vorgetragen. Dessen Schrift „Kapital und Ideologie“, für welches er umfangreiche Studien zum Zustand des modernen Kapitalismus betrieben hat, ist schließlich auch titelgebend.
Statt aber mit dem Eigentum Schluss zu machen, wie es nach der Analyse des Stücks und des Soziologen folgerichtig erscheinen könnte, wird ein anderer Weg eingeschlagen. Statt dem Kapitalismus tatsächlich an die Gurgel zu gehen, werden den Zuschauer:innen umfangreiche Überlegungen zu progressiver Einkommens- und Vermögensbesteuerung präsentiert. Das mag ein möglicher Schritt sein, doch mit einer notwendigen revolutionären Transformation der kapitalistischen Gesellschaftsformation hat es nichts zu tun. Das Eigentum bräuchte hiernach niemand mehr und alle Steuerprogramme könnten als Heizmaterial dienen.
Die nächste Aufführung des Stücks findet am 15. Februar statt. Zumindest die letzte Vorstellung war nicht ausverkauft und wer Glück hat, kann vielleicht noch die Abendkasse nutzen.
Beitragsbilder von Sebastian Hoppe
Veröffentlicht am 12. Februar 2023 um 22:07 Uhr von Redaktion in Kultur