Es braucht jemanden, der den Finger in die Wunde legt – 20 Jahre Netzwerk Demokratische Kultur (NDK) in Wurzen
7. Juli 2020 - 12:11 Uhr
Am Wochenende feierte das NDK aus Wurzen 20-jähriges Jubiläum. Mit einer kleinen Gruppe Antifaschist:innen haben wir uns am vergangenen Samstag auf den Weg in die sächsische Kleinstadt gemacht, um den Feierlichkeiten beizuwohnen. Insgesamt nahmen rund 200 Personen an der Veranstaltung teil, die mit einem bunten Rahmenprogramm ausgestaltet war. Bei Gesprächen am Rande versuchten wir zu erfahren, wie die aktuelle Situation vor Ort ist. Zur Kommunalwahl im Sommer 2019 zog der rechte Kampfsportler Benjamin Brinsa in den Stadtrat ein. Eine Woche vor der Kundgebung waren bei dem Demokratieverein zum wiederholten Mal die Scheiben eingeworfen worden.
Ein Reisebericht von „E*Vibes“ , „Antifaschistischen Initiative Löbtau“ und „Polylux Netzwerk„
Am frühen Samstagnachmittag trafen wir uns am Bahnhof Neustadt und brachen mit dem Zug in Richtung Wurzen auf. Auf der etwa einstündigen Zugfahrt kam es zum ersten traurigen Zwischenfall. Eine Kontrolleurin der Deutschen Bahn (DB) warf eine BIPoC Person aus dem Zug. Der extrem pampige Ton und das herablassende Auftreten ließen auf das rassistische Weltbild der Mitarbeiterin schließen. Eine leider zu späte Intervention unsererseits blieb erfolglos, so dass die BIPoC Person auf einem Bahnhof inmitten der ostdeutschen Provinz zurückgelassen wurde. Auf eine Anfrage an die Deutsche Bahn auf Twitter wurde mit der üblichen Phrase von Weltoffenheit und Toleranz geantwortet. Ob der Vorfall zu Konsequenzen für die Mitarbeiterin führen wird, ist fraglich.
In der 17.000 Einwohner:innenstadt angekommen, konnten wir bereits nach wenigen Metern einen ersten Eindruck der Realität in Wurzen bekommen. In einem unweit des Bahnhofs gelegenen Supermarkts trafen wir auf eine kleine Gruppe Nazis, die unschwer an einem Pullover der Partei „Der III. Weg“ mit der Aufschrift „Nationalismus, Sozialismus, Revolution“ zu erkennen war. Später begegneten wir Teilen der Gruppe am Marktplatz erneut, wo sie biertrinkend die Kundgebung des NDK beobachteten.
Vom Bahnhof aus drehten wir eine kleine Runde durch die Stadt, vorbei am Kanthaus des BUND, über die Germania-Apotheke, vor der wir den ersten rechten Sticker überklebten, bis zum Linken-Büro. Letzteres war erst Anfang Mai mit einem Hakenkreuz und dem rechten Zahlencode „88“ besprüht worden. Die Straßen sind weitgehend leer, nur ein paar Polizeiwagen drehten wohl wegen der Kundgebung stetig ihre Kreise. Die Szenerie wirkte trist, aber nicht bedrohlich. Wir bogen nach links in Richtung Innenstadt ab, entfernten ein paar weitere Nazisticker und gelangten auf den Marktplatz, wo gerade die Kundgebung anfing.
Eröffnet wurde die Veranstaltung von der NDK-Geschäftsführerin Martina Glass, die erklärte, warum sich gegen viele Grußwörter von bekannten Persönlichkeiten entschieden wurde. Diese wären nur gekommen, wenn sie auch etwas hätten sagen dürfen. Stattdessen sollte jedoch lieber das Engagement der vor Ort aktiven Menschen in den Vordergrund gestellt werden, welche die Arbeit des Vereins maßgeblich gestalten.
Nach der Eröffnung sprach der Oberbürgermeister der Stadt Wurzen. Mehr als oberflächliche Glückwünsche war der Rede aber nicht zu entnehmen. Die Würdigung des Vereins seinerseits, erscheint nach einigen Gesprächen mit lokalen Antifaschist:innen umso fragwürdiger: Diese warfen dem ehemals parteilosen und mittlerweile SPD OB Jörg Röglin vor, immer wieder Nazis in der Stadt hofiert zu haben. Besonders eindrücklich war die Schilderung der ersten Stadtratssitzung nach den Kommunalwahlen 2019. Es war die erste Sitzung, an der der sachsenweit bekannte Nazi und Kampfsportler Benjamin Brinsa als Mandatsträger für das „Neue Forum Wurzen“ (NFW) teilnahm. Im Wahlkampf zuvor war das NDK als einer der Hauptgegner der rechten Bürgerinitiative NFW ausgemacht worden.
Im Vorfeld der Sitzung hatte Brinsa zusammen mit 30 Nazis vor dem Rathaus posiert und dabei andere Stadtratsmitglieder eingeschüchtert. Anstatt diese Machtdemonstration zu kritisieren und sich hinter die Abgeordneten zu stellen, habe der OB Brinsa sogar persönlich ins Rathaus begleitet. Die Antifaschist:innen warfen ihm in diesem Zusammenhang vor, rechtes Gedankengut zu normalisieren anstatt sich dagegen auszusprechen.
Nichts Neues in Wurzen
Im Anschluss an die Rede des Bürgermeisters wurden mehrere Interviews mit Aktivist:innen geführt, die an der Entstehung des NDK beteiligt waren und über die Situation in den 1990er Jahren in der Stadt berichteten. Das „national befreite“ Wurzen zählte in den „Basballschläger-Jahren“ zu den rechten Hochburgen in den neuen Bundesländern. Neben massiven Übergriffen auf Antifaschist:innen, Punks und Geflüchtete, war das Klima vor allem vom Totschweigen rechter Strukturen durch Polizei, Politik und Stadtgesellschaft geprägt. „Während die Polizei uns heute mehr oder weniger schützt, wurden wir in den 90igern von ihnen vom Marktplatz gejagt“, so die Schilderung eines Gründungsmitgliedes.
Das NDK wurde 1999 gegründet und engagiert sich seitdem für ein demokratisches Miteinander in der Stadt. Neben Workshops, Konzerten, Lesungen, Vorträgen und vielem mehr, hat der Verein die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen in Wurzen vorangetrieben. Auf einem Zeitstrahl konnten die Besucher:innen die vielfältigen Aktivitäten der letzten 20 Jahre Revue passieren lassen. Schockierend war zu sehen, dass es seit Bestehen regelmäßig zu Angriffen auf das Haus gekommen war, wie zum Beispiel ein Sprengstoffanschlag im Jahre 2004. Insgesamt zählte der Verein über 30 Angriffe in den letzten 20 Jahren. Das letzte Mal, als die Scheiben der Räumlichkeiten eingeworfen wurden, liegt gerade einmal eine Woche zurück. Seitdem sammelt der Verein Spenden, um den Schaden in einer Höhe von 1.500 Euro reparieren zu können.
Die Angriffe auf das Haus sind aber nur ein Teil der rechten Aktivitäten seit der Wende. Insgesamt dokumentierte das Leipziger Projekt Chronik.LE für das Jahr 2018 23 rechte Straftaten. Die Stadt ist damit trauriger Spitzenreiter im Landkreis Leipzig. Die Dunkelziffer dürfte jedoch weitaus höher liegen. Besonders schockierend ist der Mord an Christa G. im Jahr 2002. Die Rentnerin war damals von einem 17jährigen stadtbekannten Nazi aus niedrigen Beweggründen erstochen worden. Bis heute wird der Mord an Christa G. nicht als rechtsmotiviert von der Bundesregierung geführt.
Das Treiben der Neonazis bleibt aber nicht immer unwidersprochen. Seit den 1990iger Jahren wurden mehrere Versuche unternommen, die rechte Hegemonie zumindest temporär zu brechen. 1996 gingen in der Kleinstadt mehr als 6.000 Aktivist:innen, darunter auch viele Antifaschist:innen gegen rechte Gewalt im Muldental auf die Straße. Es war eine der größten Antifademonstrationen der Nachwendezeit in den neuen Bundesländern. Nachdem Wurzen 2017 vom Bündnis „Irgendwo in Deutschland“ zum „Kaltlandort“ vorgeschlagen wurden, zogen im Januar 2018 über 250 Antifaschist:innen unter dem Motto „Solidarität mit allen Betroffenen rassistischer und rechter Gewalt“, begleitet von mehreren hundert Polizist:innen und SEK durch die Stadt. Das große Polizeiaufgebot schien die lokalen Nazis nur wenig zustören, so dass eine größere Gruppe um Benjamin Brinsa versuchte die Demonstration und Journalist:innen anzugreifen.
„Als rechter Jugendlicher hat man es gut hier„
Nach Interviews mit der antifaschistischen Sprecherin der Linkspartei im Sächsischen Landtag Kerstin Köditz und der Vorsitzenden der Amadeu Antonio Stiftung Annette Kahane fand die Kundgebung ihren Abschluss. Während im Anschluss daran auf 20 Jahre demokratischen und antirassistischen Widerstand gemeinsam Sekt getrunken wurde, informierten wir uns bei lokalen Antifaschist:innen über die aktuelle Situation in Wurzen.
Sie schilderten uns die Probleme von nicht-rechter Jugendlicher in der Region. „Wir haben hier keine Räume und Bewegungsfreiheit über das NDK hinaus.“. Die Nazis hingegen hätten mehrere Räume in der Stadt, in denen sie sich aufhalten und unbehelligt Jugendliche rekrutieren können: „Wenn man Nazi ist, hat man es gut hier in der Ecke. Da gibt es viele Angebote für einen“. Exemplarisch nannten sie eine vom Umfeld Benjamin Brinsas betriebene Shisa Bar, die Großraum Discothek Puls, sowie eine Reihe von Kampfsportvereinen, die vorrangig von Nazis dominiert würden.
Übereinstimmend schilderten uns alle Aktivist:innen die unzähligen Pöbeleien und Übergriffe. Nachts mieden sie meist die Stadt, da die lokal bestens vernetzten Nazis innerhalb kürzester Zeit mehrere dutzend Personen mobilisieren könnten. Besonders Sorgen macht den Jugendlichen vor allem, dass aus dem Umfeld von Benjamin Brinsa immer mehr Kampfsportler und rechte Hooligans erwachsen.
Diese Einschätzung unterstützte auch eine Angestellte des NDK, mit der wir im Anschluss sprachen. Zwar seien die rechten Jugendlichen nicht mehr ganz so sichtbar, wie noch in den 1990er Jahren, aber „die Strukturen gibt es natürlich immer noch“. Weiter führte sie aus: „Es fehlt in Wurzen an Räumlichkeiten, wo sich nicht-rechte Jugendlichen ausprobieren und ausleben können“, so die Mitarbeiterin. Das NDK sei nicht für alle Jugendlichen der geeignete Raum, „da braucht es mehr“. Besonders gefreut hat die seit 10 Jahren beim NDK Angestellte, dass sich die „Fridays for Future„-Bewegung (FFF) mit in das Haus einbringe. Mit einem Augenzwinkern versicherte sie uns, dass der Verein auch ohne Nazis die nächsten 20 Jahre weiter existieren würde.
In Hinblick auf Möglichkeiten der Unterstützung für Antifaschist:innen aus den Großstädten erklärten uns die lokalen Antifas, dass „es ja schön ist, dass es in Connewitz keine Nazis mehr gibt und wenn welche mal zu Besuch kommen, die auch die Konsequenzen zu spüren kriegen. Das wollen wir aber gern für alle und nicht nur für eine kleine Blase“. Dafür sei es aber notwendig, so die Antifaschist:innen abschließend, die Provinz nicht zu vergessen und immer wieder in ländliche Kleinstädte zu fahren, um die rechte Hegemonie brechen zu können.
Veröffentlicht am 7. Juli 2020 um 12:11 Uhr von Redaktion in Antifa