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Interview mit Ausser Kontrolle in der „Moment“

24. Juni 2016 - 19:55 Uhr

Für die neue Ausgabe der „Moment“, dem Magazin der Prager „Iniciativa Ne Rasismu!“, hatte die linke Dresdner Gruppe Ausser Kontrolle kürzlich ein lesenswertes Interview über die Möglichkeiten und Schwierigkeiten internationaler Zusammenarbeit gegeben, was wir euch an dieser Stelle nicht vorenthalten wollen.

Eure Gruppe „Ausser Kontrolle“ entstand 2009 in Dresden. Was hat euch dazu gebracht, sie zu gründen? Und wie sah es damals im Allgemeinen mit der radikal-linken/anarchistischen Bewegung in Dresden aus?

Unsere Gruppe ist aus einer Soligruppe für Genoss_innen, die im Rahmen der Proteste gegen den NATO-Gipfel in Strasbourg inhaftiert wurden, entstanden. Der Name Ausser Kontrolle kommt von einer Veranstaltungsreihe, bei der wir uns v.a. mit Repression und der zunehmenden Vernetzung der europäischen Sicherheitsbehörden beschäftigten. Seit 2009 bei 2012 wuchsen die Proteste gegen den Naziaufmarsch. In dieser Entwicklung entstanden viele neue Gruppen und Netzwerke. Wie etwa der AK Antifa aus dem sich unsere Genoss_innen von der URA herausgebildet haben. Aber auch Themenfelder wie Feminismus oder Recht auf Stadt nahmen im Schatten der großen Aktionen im Februar stetig zu. Vorher gab es neben Antifa nicht viel, was die radikale Linke auf die Beine gestellt hat.

Ausser Kontrolle

Ihr nennt euch ausserdem „Gruppe für einen neuen Internationalismus“. Was können wir uns unter einem neuen Internationalismus vorstellen, wie definiert ihr diesen für Euch?

Es wäre grundsätzlich falsch zu sagen, wir hätten „den neuen Internationalismus“ erfunden, noch versuchen wir ein starres Modell zu entwickeln. Für uns kann Internationalismus nur ein Mittel sein, um über Grenzen hinweg für eine andere Welt zu kämpfen. Es gibt sicherlich ein paar Punkte, an denen wir uns orientieren und die sich von althergebrachten Konzepten unterscheiden: unser Internationalismus ist antinational und antietatistisch. Das mag erstmal komisch klingen. Wir wollen den Internationalismusbegriff aber zunächst weiter benutzen, um zu zeigen, dass wir das Rad nicht neu erfinden (müssen), sondern uns auf eine fruchtbare, aber holprige Geschichte emanzipatorischer Bewegungen beziehen können. Wir möchten keinen Internationalismus der Politszeneneliten, sondern transnationale Vernetzung für möglichst viele Menschen zugänglich machen. Wir wollen uns in unseren lokalen Kämpfen aufeinander beziehen und voneinander lernen und nicht nur die Kämpfe an anderen Orten „anhimmeln“. In unserer Praxis versuchen wir diese und andere Ansätze umzusetzen: In Dresden bauen wir bspw. das Internationalistische Zentrum (ein unendlicher Arbeitstitel) als Relaisstation für transnationalen Austausch auf.

Diese Ausgabe des „Moment“ beschäftigt sich mit verschiedenen Perspektiven der radikalen Linken auf Europa und die Europäische Union, gleichzeitig aber auch mit der Frage nach transnationaler Vernetzung. Ihr seid Teil des transnationalen Netzwerks „Beyond Europe“. Welches Potential seht Ihr in der Vernetzung mit beispielsweise griechischen und englischen Gruppen? In Bezug auf welche Themen oder Aktionen ist eine internationale Mobilisierung oder ein Austausch Eurer Meinung nach sinnvoll?

Für uns war Beyond Europe ein wichtiger Grund, ins Um’s Ganze-Bündnis einzusteigen. Beyond Europe geht den Weg, seine Vernetzung möglichst transparent zu machen und Austausch offen für viele Menschen zu machen. Bspw. wurden beim ersten BE-Camp im griechischen Chalkidiki Workshops organisiert, an denen auch nicht in BE organisierte Genoss_innen teilnehmen konnten. Außerdem haben wir dort versucht, eine lokale Auseinandersetzung aktiv als transnationales Netzwerk zu unterstützen. Das hat scheinbar für alle Beteiligten viel neue Erfahrung gebracht. Ein ähnlicher Ansatz wird von BE dieses Jahr beim No-Border-Camp in Thessaloniki verfolgt.

Was wir lernen können, ist sicherlich am besten an Beispielen zu erklären: Von Plan C aus GB können wir vielleicht lernen, wie wir Streiks in Deutschland als Linksradikale unterstützen können. In Sachsen gibt es gerade eine Streikwelle im öffentlichen Dienst und wir haben bisher kein Konzept, wie wir diese unterstützen können (und leider auch keine Kapazitäten…). In Griechenland arbeiten Aktivist_innen sehr gut mit Geflüchteten zusammen, besetzen Häuser etc. In Deutschland ist die Sichtweise auf Geflüchtete oft sehr paternalistisch. Generell ist die Praxis der Selbstorganisierung und direkten Demokratie in Griechenland relativ beeindruckend. Da können wir sehr viel lernen. Natürlich ist es notwendig, den jeweiligen nationalen Kontext zu reflektieren, aber das sind Sachen, mit denen wir in Deutschland noch zu wenig Erfahrung haben.

Welche Schwierigkeiten treten Eurer Meinung nach in der internationalen Zusammenarbeit auf?

Ein schwerwiegender Punkt aus antiautoritärer Perspektive ist sicherlich, dass transnationales „Networking“ oft auf persönlichen Kontakten beruht und sich so schnell informelle Hierarchien aufbauen, Intransparenzen etc. Da kommen viele Faktoren zusammen, wie Geld, verfügbare Zeit etc. Wir versuchen solche Dinge zu reflektieren, für Transparenz zu sorgen.

Während viele Gruppen im ehemaligen Westeuropa gut miteinander vernetzt sind, nehmen unserer Beobachtung nach an europäischen Kampagnen nicht so viele Gruppen aus den ehemaligen Oststaaten teil. Deckt sich das mit Eurer Wahrnehmung? Woran, denkt Ihr, liegt das?

Haha, und da fragt ihr eine Gruppe aus dem „Tal der Ahnungslosen“. Mal sehen. Einmal ist da wahrscheinlich die Stärke der Bewegungen. Im Vergleich zu Westdeutschland haben wir hier in Sachsen (Ausnahme Leipzig) viel weniger Aktivist_innen, die zudem noch mit starken Naziszenen, rechter Hegemonie usw. zu kämpfen haben. Dieser ständige Kampf gegen Windmühlen lähmt sicherlich und führt dazu, dass man vielleicht das Selbstbewusstsein verliert, sich als „wichtiger Teil“ einer transnationalen Bewegung zu fühlen. Für uns war irgendwann klar, dass wir uns über unsere lokalen, äußerst frustrierenden Kontexte hinaus vernetzen müssen, sonst bleiben wir im braunen Sumpf stecken und das war ungefähr in der Zeit als PEGIDA stärker wurde. Wir geben die Frage aber auch gern an euch zurück: Woran liegt’s?

Ist Eurer Meinung nach auch ein Unterschied zwischen west- und ostdeutschem Aktivismus festzustellen?

Ein paar Dinge haben wir ja schon gesagt. Eine zweite Erklärungsebene könnte die geschichtliche sein: Wir als Linksradikale in den ehemaligen Staatssozialismen haben es bislang versäumt, eine wahrnehmbare Geschichtsschreibung der außerparlamentarischen und nichtstalinistischen Linken zu schreiben. Wenn ihr so wollt, ein radikal linkes Narrativ jenseits von Staatssozialismus auf der einen und kapitalistischem Alternativlosigkeit (TINA Doktrin) auf der anderen Seite – aber eben aus dem Osten. Im Westen gab es die 68er und Folgejahre, die bis heute in der Gesellschaft nachwirken und deren Geschichte trotz aller Einhegungs- und Normalisierungsversuche von links geschrieben wurde. In den ehemaligen Oststaaten ist eine solche Form der Geschichtsschreibung nicht bzw. kaum vorhanden. Alle Ansätze sozialer Bewegungen wurden durch autoritäre Formen kommunistischer Ideologie blutig zerschlagen. Es gibt da geschichtlich also kaum Anknüpfungspunkte und die Leute stehen im Osten linken Ideen eher skeptisch gegenüber. Daraus resultierte, auch sicherlich bei vielen unserer Genoss_innen, ein durchaus verständlicher, sagen wir mal Antikommunismus. Allerdings scheint sich dies gerade etwas zu ändern und der Begriff Antikommunismus wird wieder als das erkannt was er ist, eine Mittel der Rechten, um ein System sozio-ökonomischer Ungleichheit mit all seinen Unterdrückungsformen aufrechtzuerhalten. Es muss eine Kritik des Kommunismus geben, aber diese sollte von linksradikaler Seite kommen. Das ist jetzt auch alles etwas verkürzt und es würde wahrscheinlich eine eigene Ausgabe der „Moment“ brauchen, um halbwegs ausführlich auf diese Frage einzugehen und eine Grundlage für eine Debatte bieten zu können. Es ist auch sehr offensichtlich, dass bei uns einfach aufgrund der Geschichte eine ältere Aktivist_innengeneration fast komplett fehlt. Mittlerweile wird das besser, aber es gibt in Dresden so gut wie niemanden, der über 40 und politisch aktiv ist. Zudem scheint es, dass es hier in Sachsen einen viel höheren Repressionsdruck, Druck von Nazis und weniger Unterstützung aus der Zivilgesellschaft gibt. Aber da sollte man nicht nur jammern, sondern auch darüber nachdenken, warum das so ist und immer wieder versuchen, an den Problemen zu arbeiten. Eine stark durch antideutsche Ideologie geprägte und antigesellschaftliche Ausrichtung, a la „dass sind eh alles Nazis“, hilft uns nicht weiter.

Die Situation in Ostdeutschland ähnelt in manchem der in der Tschechischen Republik: wenige MigrantInnen, eine nicht ganz so starke Zivilgesellschaft und starke islamophobe Bewegungen. Wie geht Ihr mit diesen Herausforderungen für Eure politische Arbeit um?

Am Anfang von PEGIDA gab es noch jede Woche große Gegendemos mit teilweise mehreren Tausend Menschen mittlerweile sind die Demos bei 2-300 Teilnehmer_innen angekommen. Wir beteiligen uns auch kaum noch an den Aktionen, weil sie zu viele Kräfte binden. Zumal PEGIDA ja nur die Spitze des Eisbergs ist. Dahinter gibt es noch rassistische Bürgerwehren und Initiativen, Abspaltungen, organisierte Neonazis usw.. Wir müssen da sozusagen Prioritäten setzen und schauen, dass wir bei Großereignissen oder an „Brennpunkten“ aktiv werden. Seit dem einjährigen Geburtstag im Oktober 2015, an dem wir uns an den Gegenprotesten beteiligten, versuchen wir auch verstärkt (wenn wir Gegendemos o.ä. mit organisieren) den Fokus auf die gesellschaftlichen Prozesse, die PEGIDA ermöglicht haben, zu lenken und gleichermaßen Kapitalismus und westliche Staaten, die Fluchtursachen reihenweise produzieren, als Akteure zu benennen.

Als eine Reaktion auf Pegida habt Ihr einen transnationalen antifaschistischen Aktionstag „Solidarity without limits“ organisiert, an dem auch tschechische Gruppen teilnahmen. Wie bewertet Ihr diese Aktion im Nachhinein?

Auf lokaler Ebene freuen wir uns, dass sich viele Menschen an unserer Demonstration beteiligten (2.000 – 3.000). Unser Ziel, eigene Inhalte in eine breiten Öffentlichkeit zu bringen, haben wir leider nicht wirklich erreicht. Die Gründe dafür sind vielfältig. Unser Lokalbündnis besteht weiter fort und wird sich an den Protesten gegen den deutschen Nationalfeiertag am 03.10. beteiligen. Auf internationaler Ebene haben sich viele neue Kontakte in Europa und darüber hinaus ergeben. Für das nächste Jahr gibt es Pläne, wieder am 06.02. einen Aktionstag gegen das europäische Grenzregime – diesmal verstärkt mit dem Bündnis #6FCeuta [1] – zu organisieren. 2015 war ein weiterer Schritt in Richtung verstärkte transnationale Zusammenarbeit, den wir als durchaus positiv bewerten und hoffen die neuen Kontakte weiter ausbauen zu können. Auch wenn man die kurze Vorbereitungszeit einrechnet, kann man die breite Beteiligung als durchaus positiv bewerten. Einen gewissen Schatten auf die Aktion werfen natürlich die Naziangriffe in Prag und dass die Rassist_innen uns zahlenmäßig deutlich überlegen waren (was allerdings zu erwarten war).

Seit September 2015 seid Ihr Teil der lokalen Föderation Critique’n’act, die in dem deutsch-österreichischen Bündnis …ums Ganze! organisiert ist. Wer macht bei Critique’n’act sonst noch so mit und was ist das Ziel dieser Föderation?

Wir sind da zusammen mit der Undogmatischen Radikalen Antifa (URA), der feministischen Gruppe e*vibes und der gruppe polar organisiert. Unser Ziel war es einerseits der schon länger bestehenden Zusammenarbeit einen Ausdruck zu geben und eine verbindliche Struktur zu schaffen, in der wir uns auf verschiedenen Ebenen unterstützen, um handlungsfähiger und ansprechbarer zu werden. Andererseits ist Dresden auch, was linksradikale Zusammenhänge angeht, lange Zeit „Tal der Ahnungslosen“ gewesen. Mit der Föderation haben wir die Möglichkeit geschaffen, uns bundesweit zu organisieren und damit verstärkt an Diskussionsprozessen teilzunehmen. Das ist jetzt sehr kurz zusammengefasst. Wir haben eine längere Begründung verfasst.

Im März haben wir in Prag eine internationale Konferenz „Playing on Common Grounds“ organisiert, bei der die internationale Zusammenarbeit in unserer Region diskutiert wurde. Welchen Sinn und welches Potential haben derartige Diskussionsrunden Eurer Meinung nach?

Eine sinnvolle Eigenschaft ist sicherlich, dass diese Treffen die Möglichkeit bieten, Zusammenarbeit auch für Menschen, die nicht unmittelbar an der Zusammenarbeit beteiligt sind, sichtbar zu machen, quasi Internationalismus in Sicht- und Hörweite. Und dass man Menschen zu Gesicht bekommt, die man sonst fast nur aus der digitalen Kommunikation kennt, ist auch immer mal eine feine Sache. Solche Veranstaltungen bieten auch die Möglichkeit, Diskussionen zu vertiefen und weitere Aktionen zu planen.

Wie seht Ihr die Möglichkeiten internationaler Zusammenarbeit in unserer Region generell?

Nun ja, vielleicht ist es richtiger, erstmal von der Notwendigkeit zu sprechen. Wie ihr vorhin schon gesagt habt, sehen wir uns mit ähnlichen akuten Problemen und ähnlichen gesellschaftlichen Prozessen und Konstellationen konfrontiert. Ein gemeinsame Debatte darüber, wieso die „Ostblock“-Gesellschaften da stehen, wo sie heute stehen, ist ebenso und längst überfällig. Über die gesammelten Erfahrungen zu sprechen, Strategien zu diskutieren, sich Inspirationen zu holen, kann viel Kraft geben – das sollte man nicht vernachlässigen – und alle voran bringen. Zudem sind da natürlich ganz praktische Möglichkeiten, wie die punktuelle Unterstützung von Aktionen, bei infrastrukturellen Dingen, und und und. Die Liste ist noch viel länger und was letztlich sinnvoll ist, wird die Praxis zeigen.

[1] Als am sechsten Februar 2014 mehr als 500 Migranten versuchten, Absperrungen in der sich auf afrikanischem Boden befindenden spanischen Enklave Ceuta zu überwinden, wurden mehr als 15 Menschen von der spanischen Polizei getötet. Die spanische Polizei hatte mit Gummikugeln wahllos auf die Menschen im Wasser geschossen. Hierdurch und durch den Tränengaseinsatz hatten einige Menschen das Bewusstsein verloren und ertranken am Tarajal Beach.

Dieses Interview erschien ursprünglich in der siebten Ausgabe der Zeitschrift „Moment“ im Mai 2016.


Veröffentlicht am 24. Juni 2016 um 19:55 Uhr von Redaktion in Antifa, Soziales

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